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Sep 19, 2020 26 tweets 6 min read Read on X
.@OttoKolbl sieht die Hauptverantwortung für den gegenwärtigen Zustand der Pandemie bei den Wissenschaftlern. Doch sie liegt bei den Politikern.

Einige Gedanken zu diesem lesenswerten Essay. Thread.
1/
Kölbl stellt drei wesentliche Punkte heraus. Erstens seien die westlichen Forscher zu Beginn der Pandemie bis Mitte März davon ausgegangen, dass eine Durchseuchung unvermeidlich sei, weshalb die Politik keine Eindämmung des Virus in Betracht gezogen habe. 2/
Stattdessen wurde das Ziel #FlattenTheCurve ausgegeben, damit die Durchseuchung verzögert und das Gesundheitssystem nicht überlastet wird.

Zweitens fehle es an epidemiologischen Studien, um geeignete Eindämmungsmaßnahmen auf einer unstreitigen Datenbasis begründen zu können. 3/
Drittens nimmt Kölbl gegen eine politische Weltsicht Stellung, die er als "Ultra-Rechtsliberalismus" bezeichnet.

(Der Unterschied zum Libertarismus besteht offenbar darin, dass Libertäre keine hohen Erwartungen an den Staat haben, sondern ihn auf ein Minimum reduz. wollen.) 4/
Problematisch finde ich vor allem die These, dass in erster Linie die "Experten" Schuld an der Misere hätten, wobei die Politiker aus dem Schneider wären. Aber die Politiker wählen sich die Experten aus, auf die sie hören, und beeinflussen deren Tätigkeit. 5/
Gehe ich die drei Punkte unter diesem Gesichtspunkt durch.

1) Es ist interessant und wichtig, dass zunächst sehr viele Experten eine Durchseuchung für unvermeidbar gehalten haben. Die Frage ist jedoch, warum sie das taten. 6/
Dass es technisch möglich ist, das Virus weitgehend einzudämmen, konnte man zu diesem Zeitpunkt ja schon in China und Südkorea sehen. Zudem konnte der Webasto-Ausbruch vollständig eingedämmt werden. 7/
Vielmehr müssen Zweifel an der politischen und gesellschaftlichen Durchführbarkeit bestanden haben. Und da wird es auch Signale von Politiker:innen gegeben haben. Z.B. hat Kekule erfolglos Spahn dazu zu drängen versucht, den Karneval abzusagen. 8/
Die Experten dürften also durchaus Grund zu der Meinung gehabt haben, dass ein harter Lockdown oder auch nur konsequente Maßnahmen in Deutschland schwieriger durchzuführen seien, bzw. dass der politische Wille dafür nicht vorhanden sei. 9/
Wir dürfen die Ereignisse nicht nur aus der Retrospektive beobachten. Das rechtfertigt nicht die Irrtümer der Experten - schon gar nicht in Bezug auf Masken - setzt sie aber ins richtige Verhältnis zu den Versäumnissen der Politik. 10/
Leider wollen die Politiker:innen auch heute noch keine Eindämmung des Virus, obwohl besonders Neuseeland eindrucksvoll vorgeführt hat, dass das auch in demokratischen Ländern möglich ist. #mutigwieArdern

Doch das ist eine politische Entscheidung. 11/
Überhaupt kommt den Politikern Verantwortung zu dafür, welchen Experten sie zuhören und welche sie fördern. Das geschieht offenbar nicht nur nach fachlichen Gesichtspunkten. Die Geschichte mit #Streeck, #Laschet und Storymachine ist hinlänglich bekannt. 12/
Baden-Württemberg und Sachsen gaben Studien in Auftrag, die (wunschgemäß?) belegten, dass Kinder nur wenig zum Infektionsgeschehen beitrügen oder gar "Bremsklötze" seien. 13/
Die Kultusminister:innen folgen lieber den Empfehlungen der Pädiater:innen, die einen Regelschulbetrieb befürworten, als den vorsichtigeren Empfehlungen der Leopoldina und der Gesellschaft für Virologie. 14/
Der sächsische Ministerpräsident Kretzschmer traf sich sogar mit Verharmlosern wie Homburg und Bhakdi zum vertraulichen Gedankenaustausch. correctiv.org/faktencheck/hi…

Das ist schwerlich die Schuld seriöser Experten. 15/
2) Zum Punkt mangelnder epidemiologischer Datenerfassung und Analyse ist nur zu bemerken, dass es Aufgabe der Politik wäre, diese voranzutreiben. Das Gesundheitsministerium hätte dazu ein großes Forschungsprojekt initiieren müssen. Ein Versäumnis von Spahn. 16/
Doch so sehr es für die Beurteilung der Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie unerlässlich wäre, über ein solches Instrumentarium zu verfügen, so sehr stünde das den Interessen der Politiker:innen entgegen, da es ihren Handlungsspielraum einschränken würde. 17/
Nur Trump sagt offen: "Slow the testing down, please!" Doch ein wenig wird auch in Deutschland so gedacht. Keine Tests, keine Fälle, keine Maßnahmen. Das gilt besonders für den Schulbetrieb. Es ist im Prinzip eine typische politische Denkweise. 18/
3) Kölbls Anklage gegen den "Ultra-Rechtsliberalismus" stößt bei mir im Prinzip auf Zustimmung. Doch sein Framing ist merkwürdig, denn dabei handelt es sich im Prinzip um die in westlichen Ländern mehrheitlich akzeptierte Auffassung über das Verhältnis zum Staat. 19/
Der westliche Liberalismus, in all seinen Ausprägungen, hält den Staat grundsätzlich für ineffizient. Ökonomisch und politologisch muss diese These als widerlegt gelten. Und ihre Falschheit wird besonders in der Pandemie deutlich sichtbar. 20/
Hier muss man wahrscheinlich gerade den deutschen Ökonomen vorwerfen, sich aus ideologischen Gründen wissenschaftlichen Einsichten zu verschließen. Vermutlich trägt Berufungspolitik das ihrige dazu bei. 21/
Doch warum sind fast nur Vertreter der neoklassischen Schule in den Medien präsent? Warum gilt es als radikale Idee, mehr Schulden zu machen, um in die Infrastruktur zu investieren? Es gibt durchaus Politiker:innen, die offen sind für neue Ideen und es besser wissen. 22/
Doch diese Offenheit fehlt vielen Politiker:innen und das ist ihnen zum Vorwurf zu machen. Der typische deutsche Politiker ist Jurist und war vor dem Einzug in ein Parlament mit einer Interessengruppe verbunden. Aus diesem Millieu kommt keine Offenheit. 23/
Jedenfalls werden die Defizite des westlichen Wirtschafts-, Staats- und Politikverständnisses in der Pandemie auf besonders fatale Weise sichtbar. Ändern wir das! 24/
Noch etwas: Es ist sicher nicht möglich, mit einer besonders guten epidemiologischen Begründung Corona-Verharmloser in die Schranken weisen - siehe Klima-Debatte. Homburg, Bhakdi und Wodarg lassen sich von Argumenten nicht aufhalten. 25/

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