Die „Reichsgründung“ am 18. Januar 1871, vor 150 Jahren, geschah in einem nüchternen Rahmen. Der Kontext war eine durch und durch preußisch-protestantische Gottesdiensthandlung, das hatte Wilhelm I. persönlich so bestimmt. Ein Thread zur Erinnerung.
Offiziell hatte Wilhelm das Ordensfest des hohenzollerschen Hausordens (Schwarzer Adler) angekündigt, den Krönungstag des ersten preußischen Königs Friedrichs I.: „Da ich den Kaisertitel einmal annehmen soll, so habe ich diesen Gedenktag der Preußischen Geschichte dafür gewählt.“
Relativ entspannt versammelten sich die (inzwischen eingeweihten) Bundesfürsten, Städtevertreter und Militärs im Versailler Spiegelsaal. Die Mittelnische war mit bescheidenen Mitteln – und typisch preußischer Prüderie – zum Altarplatz umgestaltet worden.
Musikcorps und ein Chor mit sangeskräftigen Soldaten aus drei Regimentern begleiteten den Gottesdienst: Beim Eintritt des Königs erklang Psalm 60: ‚Jauchzet Gott alle Lande‘. Anschließend gemeinsam der Choral des Pietisten Johann J. Schütz ‚Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut‘.
Es folgte „Helm ab zum Gebet“ und die preuß. Militärliturgie, die abschloss mit Ps 21: ‚Herr, der König freut sich in deiner Kraft, und wie sehr fröhlich ist er über deine Hilfe‘. Hofprediger Bernhard Rogge hatte als Predigttext 1 Timotheus 1,17 gewählt. Demut ist das Leitmotiv.
Rogge deutet Preußens Geschichte als einen Weg unter Gottes Führung. Effektvoll kontrastiert er ihn mit Frankreichs „Hybris“. Homiletisch sehr geschickt führt Rogge den Blick der Gemeinde nach oben, an das mittlere Deckengemälde des Spiegelsaals.
Es zeigt Ludwig XIV. über den Allegorien der Nachbarreiche, in Sichtweite des olympischen Götterhimmels, mit seinem Wahlspruch: ‚Le roi gouverne par lui-même.‘ Der Sonnenkönig – ein moderner Nebukadnezars (Daniel 5,27).
Dem stellt Rogge das Motto aus Psalm 2,10f entgegen: ‚So laßt euch nun weisen, ihr Könige, und laßt euch züchtigen, ihr Richter auf Erden. Dienet dem Herrn mit Furcht und freuet Euch mit Zittern.‘
Den Vertretern der irdischen Macht stehe es an, das (eiserne) Kreuz als ein Demutszeichen zu tragen. Das ist zwar nicht herrschaftskritisch wie manche lutherische Predigt in der Frühen Neuzeit, aber eine strenge politisch-ethische Mahnung zur Gerechtigkeit und Selbstbescheidung.
Rogge verliert dabei die theologische Deutung des Moments nicht aus dem Blick. Die Begründung des neuen Kaisertums soll als unverdiente Gnade Gottes verstanden werden (Römer 11,33). Der Prediger verbannt entschlossen großdeutsche, reichspatriotische Träume in die Vergangenheit.
Der geistliche Teil der Feier schloss mit dem Choral ‚Nun danket alle Gott‘, dem Segen und einem vom Chor intonierten dreifachen Amen. Wilhelm durchschritt den Saal und betrat die Bühne an der Schmalseite der Galerie, die Anwesenden wechselten die Blickrichtung um neunzig Grad.
In seiner von Bismarck verlesenen Proklamation bestimmte der Kaiser das Reich in ganz ähnlichem Ton wie sein Vertrauter Rogge (übrigens ein Schwager von Kriegsminister Roon) in der vorausgegangenen Predigt – als Friedensreich.
Dieser Schluss der Proklamation ist eine Antithese zum Motto Napoleons III. (‚L’Empire, c’est la paix‘), gleichzeitig aber auch eine gewisse Parodie des alten römisch-deutschen Kaisertitels (‚Mehrer des Reiches‘) im Geist protestantischer Ethik.

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