So, für diejenigen, die sich noch nicht genug aufgeregt haben: Hier eine Bewertung der Corona-Lage im Saarland (aus Saarländer-Sicht). #Thread
Ich konnte heute kaum an was anderes denken und weiß trotzdem nicht, wo ich anfangen soll. Die Entscheidung, den Lockdown zu beenden, hat uns alle gestern Abend wie ein Holzhammer getroffen. Keiner hat damit gerechnet und das zeigt eigentlich nur, wie chaotisch alles ist.
Ende letzter/Anfang dieser Woche hieß es noch, dass der Stufenplan zur Öffnung verworfen bzw. verschoben wird, weil die Inzidenzen seit dem Beschluss wieder hochgehen. Mitte der Woche dann dieses Debakel im Bund (#Osterruhe). Und jetzt das: Ende des Lockdowns nach Ostern. HÄ??
Als Begründung für die geplanten Lockerungen im Saarland werden zwei Argumente aufgeführt: 1. die niedrige Inzidenz und 2. der Impffortschritt. Beides ist Quatsch, und zwar aus folgenden Gründen:
1. Es stimmt, dass die Inzidenz im Saarland im Ländervergleich sehr niedrig ist. Nur drei Bundesländer haben derzeit eine Inzidenz unter 100 und wir sind mit (Stand heute) 73,1 auf dem zweiten Platz hinter Schleswig-Holstein (59,7). Aber das ist nur die halbe Wahrheit.
Die Inzidenz fiel Anfang/Mitte Februar unter 100 und seitdem mäandert dieser Wert so zwischen 80-50 vor sich hin. Genau wie im Rest Deutschlands sehen wir momentan aber eine Tendenz nach oben. Letzte Woche Donnerstag waren wir bei 64,6, nochmal eine Woche früher bei 58,1.
Unter 50 waren wir ewig nicht. Wir erinnern uns: Das galt mal als Maß aller Dinge. Jetzt sind wir schon auf halben Weg zur 100. Wie kann man bei einer solchen Entwicklung auch an Lockerungen denken, nachdem wir letztes Frühjahr mit die ersten waren, die die Schulen schlossen?
Ja, wir stehen im Ländervergleich gut da, aber nicht, weil die Inzidenz im Saarland wirklich GUT IST, sondern weil alle anderen NOCH SCHLECHTER SIND. Das ist KEIN Grund zum Jubeln, weil der Wert immer noch viel zu hoch ist, um irgendwas zu beenden. Jetzt zu lockern ist Wahnsinn.
Punkt 2: Der Impffortschritt. Ja, da stehen wir im Vergleich (!!!) gar nicht schlecht da. Mit einer Impfquote von 11,7% sind wir unter den Bundesländern Spitzenreiter. ABER: Wir reden hier teilweise von Zehntelprozenten, die uns von anderen trennen - keine riesigen Unterschiede.
Zudem sind damit nur die Erstimpfungen gemeint. Bei den Zweitimpfungen ist das Saarland unterdurchschnittlich (4%, Schnitt Deutschland 4,3%). Aber nur die Zweitimpfung gewährt wirklich Schutz. Die Erstimpfung sollte also in dem Zusammenhang gar keine Rolle spielen.
Ein interessantes Detail: Vergleicht man die Impfquote mit der Inzidenz, fällt auf, dass die bereits verabreichten Impfungen zu diesem Zeitpunkt offensichtlich noch NICHT (zumindest nicht überall) ausreichen, um das Infektionsgeschehen einzudämmen. (Links RKI, rechts @risklayer)
Als Laie würde ich behaupten, dass hier der kritische Wert, sprich der Anteil an Immunisierten in der Bevölkerung, der letztendlich zu weniger Neuinfektionen führen muss, noch nicht erreicht ist. Und zwar noch lange nicht. Ich meine: 4% Zweitimpfungen. VIER. PROZENT!!!
Die aktuelle Situation im Saarland kann man also im besten Fall als "schöngeredet" bezeichnen. Niemand hätte das alles vor ein paar Monaten zum Anlass genommen, irgendwelche Lockerungen anzukündigen.
Kommen wir zum größten Problem:
Die 80.000 zusätzlichen Impfstoff-Dosen, die das Saarland Anfang April erhält. Die stammt aus einem Sonderkontingent der EU, mit dem Hotspots in Grenzregionen bedacht werden sollen. Unser Anteil daraus ist höher als der aller anderen Bundesländer.
Und das zurecht: Derzeit laufen im RKI Beratungen darüber, ob Frankreich als Hochinzidenzgebiet eingestuft wird. Das Département Moselle, das direkt an das Saarland grenzt, hat aktuell eine Inzidenz von knapp 300 (!).
Der Witz ist: Ändern würde das für Saarländer nix. Moselle ist nämlich bereits als Virusvariantengebiet eingestuft. Im Unterschied zu Deutschland grassiert hier jedoch neben der britischen auch die südafrikanische Mutation. 37% aller Neuinfektionen gehören zu dieser Variante.
Und obwohl aktuell jeder, der vom Saarland aus nach Frankreich rein will oder raus, einen negativen Schnelltest vorlegen muss, schwappt die Mutante durch Pendler und Grenzgänger auch hier rein. Vor zwei Wochen gehörten 15% aller Neuinfektionen zur afrikanischen Variante.
Das ist im Vergleich zum Rest Deutschlands gewaltig - so sehr, dass sogar Jens Spahn total besorgt war. Und das war letztendlich der Grund für die 80.000 zusätzlichen Impfdosen: Die weitere Verbreitung der Mutation im Saarland sollte verhindert werden, weil sie gefährlich ist.
So. Passt das nun zusammen? Wie kann das Saarland einerseits so gefährdet sein, dass es eine gewaltige Sonderlieferung an Impfstoffen erhält (Biontech übrigens wohl, weil AstraZeneca gegen die Südafrika-Variante schwächelt) und andererseits so sicher, dass alles geöffnet wird?
Antwort: Gar nicht. Das passt hinten und vorne nicht. Einerseits nach Sonderlieferungen zu betteln und andererseits jetzt einen auf geile *Modellregion* zu machen, die als erstes den Lockdown beendet, kann unmöglich zusammen gehen.
Jetzt ist die Frage, wie es so weit kommen konnte. War das ein Supercoup von Ministerpräsident Tobias Hans, der für das Saarland mehr Impfdosen rausgeschlagen hat mit dem Plan im Hinterkopf, danach alles zu öffnen? Oder weiß eigentlich gerade keiner, was er da tut?
Ich vermute eher letzteres. Noch bis gestern (Mittwoch) hieß es z.B., dass die Sonder-Impfdosen an Unternehmen mit vielen Pendlern und Grenzgängern gehen sollen. Schließlich haben die auch das größte Risiko, sich eine in Frankreich kursierende Mutante einzufangen.
Einen Tag später stellt MP Hans klar, dass von der Prioritätenliste nicht abgewichen wird. Was ich gut finde. Nur kam die Aussage mit den Pendlern und Grenzgängern von Gesundheitsministerin Bachmann - und die ist genauso wie Hans Teil der CDU.
Reden die nicht miteinander? Wurden die vom Protest gegen diese Regelung überrascht und sind deshalb umgeschwenkt? Obwohl das ab-so-lut vorhersehbar war? Man weiß es nicht. Man fragt sich nur, was zur Hölle da los ist.
Das Motto dieses blöden Saarland-Modells lautet "Impfen, testen, öffnen". Das ist eigentlich der größte Witz. Voraussichtlich werden die zusätzlichen Impfdosen nämlich nach Ostern ankommen - also genau zu dem Zeitpunkt, wenn der Lockdown beendet werden soll.
Umgekehrt hätte es ja noch ein bisschen Sinn gemacht: Das Saarland kriegt viele Zusatz-Impfdosen (fast so viele wie seit Anfang des Jahres, dazu kommen die regulären Lieferungen) und lockert, NACHDEM diese verimpft worden sind. Stattdessen passiert alles zeitgleich. WTF?
Das einzig *Innovative* an dieser Strategie sind die Schnelltests. Die Außengastronomie, Fitnessstudios, Kinos etc. öffnen und die Leute dürfen dorthin, wenn sie einen aktuellen Schnelltest vorlegen.
Ob das klappt? Keine Ahnung. Zwar heißt es, dass das Saarland dahingehend in den letzten Wochen eine erstklassige Infrastruktur aufgebaut hat, aber was passiert, wenn hunderttausende Saarländer täglich einen Schnelltest haben wollen, will ich mir nicht vorstellen.
Mir erscheint das alles unfassbar unpraktikabel - GERADE in den Dörfern. Wer fährt denn in die nächste Kreisstadt zum Schnelltest, um vor der Kneipe zuhause ein Bier trinken zu können?
Und natürlich: DIE SCHULEN. Oh mein Gott, die Schulen!! Nach Ostern darf ich also nicht ohne negativen Schnelltest vor der Eisdiele sitzen, während die Schnelltests in den Schulen immer noch freiwillig sind? Und gerade mal die Hälfte aller Schüler da mitmachen?
In der Pressekonferenz heute morgen wurde die Frage einfach abgewatscht. Vize-MP und Wirtschaftsministerin Rehlinger meinte nur, dass das schon wird. Die Bereitschaft wird steigen. Wieso? Weil sie davon überzeugt ist. WOW.
Ach ja: Und natürlich wird das Projekt *Modellregion* beendet, wenn sie merken, dass es nicht klappt. Wann das passiert, darauf wollten sie sich allerdings nicht festlegen. Man wolle sich nicht so "an die Inzidenz klammern". Und lieber lokal gucken, was grade passiert. DOPPELWOW.
Ganz ehrlich: Mir macht das alles eine Scheißangst. Das alles sendet ein völlig falsches Signal. Während alle Experten einstimmig sagen, dass es jetzt, GERADE JETZT, einfach nur fahrlässig ist zu öffnen, macht das Saarland alles auf. Weil: Wer hört schon auf Experten?
Selbst Leute, die sich bis dato vorbildlich verhalten haben, werden denken "Ok, Pandemie beendet" - was einfach saugefährlich ist. Ich fühle mich gerade wie ein Versuchskaninchen und Freude darüber, bald irgendwo auf ner Terrasse hocken zu dürfen, verspüre ich null.
tl;dr: Der ganze Scheiß wird uns bald so dermaßen um die Ohren fliegen und das Saarland eignet sich nicht automatisch zur Modellregion, nur weil es ungefähr eine Million Einwohner hat und seine Fläche so groß ist wie ein Saarland 🙄
Nachtrag:
Leider finde ich den Tweet nicht mehr, um mich zu bedanken, aber jemand hat mir heute Nacht einen Spiegel-Artikel verlinkt, aus dem hervor geht, dass nicht nur die südafrikanische, sondern auch die brasilianische Variante bereits in Frankreich angekommen ist.
Der Artikel erklärt außerdem anschaulich, wie politische Interessen beiderseits der Grenze dazu führten, dass die Lage in Frankreich lange nicht so ernst eingeschätzt worden ist, wie sie ist, weshalb es lange keine bzw. auch jetzt nur lasche Kontrollen gibt.
Der Artikel ist zwei Wochen alt, aber da stand einiges drin, was ich nicht wusste (s.u., leider ist er hinter der Paywall). Diese für mich neuen Infos macht das ach so tolle Saarlandmodell in meinen Augen nur noch katastrophaler. spiegel.de/politik/deutsc…
btw: Seit fast zwei Monaten untersucht das Saarland ALLE positiven Corona-Tests auf Virusvarianten. P.1 ist dabei zwar noch nicht nachgewiesen worden. Leider weiß ich selbst nicht so genau, wie vertrauenswürdig ich diese Info finde.
Vor ein paar Wochen wurde nämlich entdeckt, dass die Zahl der Mutationen, die von den Landkreisen gemeldet wurde, nicht mit der Zahl des saarländischen Gesundheitsministeriums übereinstimmt. Wie dieser Fehler zustande kam, weiß anscheinend immer noch keiner.
Die Abweichungen waren nicht so wild, aber sowas untergräbt mMn massiv das Vertrauen. Egal ob es pure Inkompetenz war oder nicht. Dazu passt, dass die Inzidenz auf dem RKI-Dashboard SCHON WIEDER nicht mit den offiziellen Zahlen des Landes übereinstimmt (= zu tief ist).
Da weiß ich echt nicht mehr, was ich sagen soll. Das wurde jetzt schon zum wiederholten Male beobachtet, nicht nur beim Saarland. Da geht echt der letzte Rest Vertrauen in die digitale Infrastruktur in Deutschland flöten.
Nachtrag 2: Die Frage, wie viel von dieser ganzen Scheiße jetzt Wahlkampf ist, kann man natürlich auch nicht ignorieren.
(An der Stelle ein Hinweis: Tobias Hans rückte 2018 für Annegret Kramp-Karrenbauer als Ministerpräsident nach, als die in die Bundespolitik wechselte. Sprich: Bei ihm geht es nächstes Jahr nicht um die Wiederwahl, da er schlicht noch nie gewählt worden ist.)
Für mich macht das gar keinen Sinn. Also - mit dem Ende des Lockdowns Wahlkampf zu machen. Das mag aktuell ein paar Leute freuen (auch wenn Umfragen zeigen, dass die Mehrheit keine Lockerungen will, würde ich nicht drauf wetten, dass das im Saarland auch so ist -.- ). ABER:
Bis zur Landtagswahl im Saarland vergeht noch ein Jahr. Mehr als genug Zeit also, zu sehen, dass alle Experten, die jetzt vor Lockerungen warnen, absolut recht hatten, wie es bisher eigentlich immer der Fall war.
Klar, Politiker machen oft das Gegenteil dessen, was sinnvoll wäre, wenn es ihnen opportun erscheint, aber gerade in dem Fall MUSS die saarländische Regierung doch damit rechnen, dass ihnen die Entscheidung auf die Füße fällt. Wie kann sowas sein?
Eigentlich gibts da nur zwei Möglichkeiten: 1. sie spekulieren darauf, dass die Wähler wirklich ein Gedächtnis wie ein Goldfisch haben und bis nächstes Jahr dieses Desaster vergessen haben oder 2. sie glauben WIRKLICH, dass das Modell klappen wird.
Letzteres finde ich richtig schlimm, wenn auch nicht unbedingt überraschend. Massig Leute glauben Dank Corona plötzlich, dass Bill Gates ihnen Mikrochips implantieren will - da ist diese Art von Wahnvorstellung ja noch richtig harmlos dagegen.
Es bleibt jedenfalls spannend. Und wenn ich spannend sage meine ich absolut furchterregend.
Das Saarland bekommt diese Woche 80.000 (!) Extra-Biontech-Impfdosen aus einem Sonderkontingent, um die Verbreitung der Südafrika-Mutante einzudämmen, die in der Grenzregion in Frankreich wütet. Unmittelbar danach so schnell zu öffnen ist eine Frechheit.
"Ich brauche den Besuch in der Kirche, um durchzuhalten."
Leute, ganz ehrlich: Ich bräuchte aktuell auch so einiges, aber das interessiert halt einfach keine Sau. Wieso sollten für Gläubige Sonderregeln gelten? Ich sehe das nicht ein.
Und ich habe echt die Schnauze voll von diesem hypermoralischen Druck. "Mir geht es so schlecht, deshalb brauche ich die Kirche" - was soll man dazu sagen? Jede Antwort außer "Oje, na dann geh nur und viel Spaß" macht einem zu einem gefühllosen Arschloch.
Mir geht es schon zu normalen Zeiten sehr, sehr oft beschissen und selbst da interessiert das kaum jemanden, obwohl es KEIN Risiko darstellen würde, mir zu helfen. Und jetzt soll ich für alles Verständnis haben - sofern es jedenfalls irgendwas mit Religion zu tun hat?
Wir müssen endlich unverkrampft über Pornos reden, dann wird sich das Problem mit diesen Kinderpornos und Vergewaltigungsvideos schon von selbst lösen. Das ist so dümmlich und naiv, dass mir die Worte fehlen. sueddeutsche.de/digital/visa-m…
Es ist unfassbar, wie der Autor es schafft, einerseits zu fordern, dass Pornos aus der "Schmuddelecke" rauskommen sollen, wo die Politik nicht so genau hinschaut, anderseits jeden staatlichen Eingriff in die Branche schlecht redet.
Was sind seine Lösungsvorschläge? Also abgesehen von der Forderung nach *mehr guten Pornos*? Er hat keine. Er glaubt anscheinend wirklich, dass sexuelle Gewalt in diesem Bereich verschwindet, wenn wir alle total offen und unverkrampft mit dem erlaubten Zeug umgehen. Ey... was??
Stellt euch mal vor, ihr wollt einen Kredit, kündigt aber an, nur einen Bruchteil davon zurück zu zahlen. Keine Bank würde da mitmachen. Beim CO2-Preis passiert dagegen genau das und TROTZDEM wird an allen Ecken gejammert!
Die neu eingeführte CO2-Steuer liegt bei aktuell 25 Euro pro Tonne. Laut Berechnungen des Umweltbundesamts liegen die Folgekosten einer Tonne CO2 aber bei 180 Euro. Das sind 13,9 Prozent. Ihr zahlt aktuell lächerliche 13,9 Prozent der wahren Kosten und heult immer noch. Hallo?
Das sind die Fakten, die durch kein noch so trauriges Einzelschicksal wegdiskutiert werden können. Die paar Euro, die jetzt mehr fürs Tanken fällig werden (lausige 7-8 Cent pro Liter!!!), gleichen trotzdem nicht mal ansatzweise den Schaden aus, der dadurch verursacht wird.
Der Kampf gegen die Klimakrise stockt, weil immer noch viel zu wenige Menschen kapiert haben, welche Katastrophe da auf uns zukommt. Gleichzeitig konzentrieren sich Forscher, Klimaaktivsten etc. weiterhin zu sehr darauf, den Klimawandel beweisen zu wollen.
Ich kann das verstehen. Als halbwegs vernünftiger Mensch ist es ja auch unfassbar frustrierend, Tatsachen geleugnet zu sehen. Dabei interessieren sich Leugner nicht für Fakten und die 100. Graphik zur Temperaturentwicklung der letzten 100.000 Jahre wird daran auch nichts ändern.
Ich habe mal einen Vortrag von @rahmstorf gesehen. Das tat weh. Einer der renommiertesten Klimaforscher der Welt stand da und klang bei jeder Graphik, als müsste er sich für Fakten entschuldigen. Weil er das leider gewohnt ist. Weil er ständig von Idioten angegriffen wird.