Vor 76 Jahren, am 13. April 1945, endete die Schlacht um Wien. Das Datum verweist auf das letzte Tabu im Umgang mit der NS-Geschichte: die Rolle der sowjetischen Befreier. Ein Thread.

Foto: sowjetische Truppen rücken von der Stadtgrenze in die Wiener Innenstadt vor. 1/
Die militär Lage d deutschen Truppen war von Beginn an aussichtslos. Dennoch verhinderte der NS-Gauleiter Baldur v Schirach, dass Wien kampflos übergeben wurde. Er selbst tauchte unter. Gerüchte, er sei in Wien von Zivilisten gelyncht worden, erwiesen sich später als falsch. 2/
Besonders heftig gekämpft wurde zwischen 6. und 13. April 1945 in Wien u. a. in Simmering, rund um das Arsenal und den Donaukanal. Die Rote Armee war haushoch überlegen. Im Häuserkampf waren ihre Verluste dennoch schwer.

Foto: Sowjet. Panzer in der Favoritenstraße (c hdgoe). 3/
Fast 40.000 Rotarmisten bezahlten die Befreiung Wiens mit dem Leben. Die Zahl der getöteten Wehrmachts-, SS-, HJ- und Volkssturmangehörigen ist nicht bekannt, sie dürfte zwischen 15.000 und 30.000 betragen haben. Hinzu kamen rund 5.000 getötete ZivilistInnen. 4/
Im Zuge der Kämpfe kam es zu Plünderungen - nicht nur der Rotarmisten, sondern auch durch Zivilbevölkerung. Dabei wurde verschiedentlich Feuer gelegt. In der Innenstadt griffen solche Brände auf den Stephansdom über, der schwer beschädigt wurde. 5/
Trümmer des Stephansdoms lagen lange unbeachtet herum. Meine Großmutter, die vor den Kämpfen aus d Stadt geflohen war u im Sept 1945 wieder nach Wien kam, trug zwei Fassadenteile nach Hause und bewahrte sie für den Rest ihres Lebens auf. Eines davon trägt Spuren des Brandes. 6/
In den Nachkriegsjahren wurde der 13. April in Wien und Teilen Niederösterreichs als Befreiungstag gefeiert. Vorübergehend wurde auch erwogen, das Datum zum Nationalfeiertag zu machen. Davon sah man im sich verschärfenden Kalten Krieg jedoch letztlich ab. 7/
Interessanterweise hatten SP- und VP-Bürgermeister mehrfach Schwierigkeiten, den 13. April aus dem öffentlichen Festkalender wieder zu streichen. Er war offenbar durchaus populär. Insgesamt gestaltete sich das Verhältnis der Bevölkerung zu "den Russen" ambivalent. 8/
Sexuelle Übergriffe der sowjet. Truppen waren weit verbreitet - wie zuvor schon jene durch Wehrmacht und SS in der UdSSR. Die dt Verbrechen, einschl. des Vernichtungskriegs mit Millionen (Zivil-)Toten rechtfertigen die sowjet. Verbrechen nicht. Aber erklären sie zum Teil. 9/
In Summe hatten die sowjet Übergriffe in D und Ö quantitativ nicht annähernd die Dimension Deutscher Verbrechen im Osten. Warum blieben "die Russen" hauptsächlich als brandschatzende Vergewaltiger in Erinnerung, die US-Streitkräfte hingegen als schokoverteilende Nice Guys? 10/
Die Gründe sind mehrschichtig. Sie hatten mit jahrelanger Indoktrination durch die NS-Propaganda zu tun; mit der Furcht, die Sowjets könnten mit gleicher Münze heimzahlen, was man selbst in der SU angerichtet hatte; mit realen Taten der Rotarmisten; Und mit dem Kalten Krieg.11/
So entschied sich nach 1945 die Regierung Adenauer bewusst, Vergewaltigungen durch westliche Alliierte nicht zu thematisieren, obwohl auch diese zeitweise endemische Ausmaße annahmen ("the rape of Munich"). Die Sowjets blieben dagegen die alten Feinde, auch in der Überlieferung.
Historisch geht es nicht darum, Verbrechen zu rechtfertigen. Sondern das Bild zu vervollständigen. Ein aufschlussreiches Zeitbild der Befreiung Wiens zeichnet etwa C Nöstlingers autobiogr Roman "Maikäfer flieg", der ausführlich das Verhältnis v Bevölkerung u Befreiern schildert.
Auch geht es um die geschichtl. Einordnung des Gesamtgeschehens. Fest steht, dass die Hauptlast der Befreiung Europas die Sowjetunion trug - und dafür einen fürchterlichen Preis bezahlte. Das zu würdigen stellte keine Leugnung dar, sondern trüge einem simplen Sachverhalt Rechnung
Solange am Jahrestag der Befreiung Wiens am Sowjetdenkmal ausschließlich Blumen von Nachfolgestaaten der UdSSR liegen und sich kein/e österr VertreterIn auch nur in die Nähe wagt, bleibt auch unser Verhältnis zu unserer eigenen Vergangenheit letztlich ungeklärt. /Schluss

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