Ich habe heute eine Blockempfehlung für @gode_fridus ausgesprochen. Ein paar UserInnen haben ähnliche Erfahrungen geschildert wie die, die ich beschrieb.

An anderer Stelle hatte ich eine Diskussion über Gode_fridus' Argumentation, siehe hier:
Es ging darum, ob Gode_fridus' Argumentation tatsächlich so schädlich ist, wie ich annehme. Ich gestehe, im Ping-pong der Antwortfunktion kann ich nicht so ausführlich antworten, wie ich möchte.

Ich antworte deshalb hier.
Was Gode_fridus schreibt, und worauf sich Beate bezieht, erinnert mich an das, was ich über die linke Bewegung in den 60er Jahren gelesen habe. „Hauptwiderspruch“ war die Überwindung des Kapitalismus, gegenüber dem der Kampf um Frauenrechte als „Nebenwiderspruch“ angesehen wurde,
der gelöst sein würde, sobald der Hauptwiderspruch gelöst sein würde.

Also sollten alle mit allen Kräften an der Überwindung des Hauptwiderspruchs arbeiten, und die protestierenden Frauen wurden zum Flugblätter-Tippen geschickt.
Heute bin ich froh, dass die Frauenbewegung mit ihren Protesten nicht bis zur Abschaffung des Kapitalismus gewartet haben.
Gode_fridus sieht also die Organisation der Pflege unter privatwirtschaftlichen Gesichtspunkten als Hauptwiderspruch (und da stimme ich zu, dass das ein Problem ist).
Die Situation von Behinderten allgemein und von Behinderten in Heimen ist da für sie ein Nebenwiderspruch, der gelöst sein wird, wenn Pflege wieder als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet und entsprechend politisch unterstützt wird.
Jetzt lese ich ihre Posts aus marlies' Thread so, dass sich für sie folgendes Narrativ ergibt:
Pflege ist politisch nicht genug unterstützt > das führt zu Überforderung bei den Pflegenden > das führt zu psychischen Erkrankungen > Überforderung und psychische Krankheiten führen zu solchen Morden wie in #Potsdam. Also muss die Politik die Pflege anders organisieren.
Mit diesem Narrativ ist sie Beteiligten an marlies' Thread ziemlich heftig über den Mund gefahren.

In den Threads, die ich von der Behinderten-Community in den letzten Tagen gelesen habe, habe ich das Problem genau von der anderen Seite aus beschrieben gesehen:
Behinderte sorgen sich um Leute, die in einer ähnlichen Situation sind wie die Getöteten. Um die, die davon abhängig sind, dass das Pflegepersonal seine Sache gut macht.
Um die, die sich sorgen, getötet zu werden, weil irgendjemand glauben könnte, dass man ihnen einen Gefallen tun würde, wenn man sie „erlöst“. Um die, die im Oberlinhaus erfahren mussten, dass Mitbewohner getötet wurden, ...
die sich jetzt denken werden, „Es hätte auch mich treffen können“, und von denen wir nicht wissen, ob sie nun psychischen Beistand bekommen – während laut Nachricht des Oberlinhauses die Mitarbeiter solchen Beistand bekommen.
Behinderte aus meiner Timeline haben das Narrativ, das Gode_fridus anscheinend vertritt, hinterfragt.
Ja, die Zustände in der Pflege führen zu Überforderung. Aber im Normalfall führt Überforderung dazu, dass Leute kündigen. Oder „Dienst nach Vorschrift“ machen, was, ja, Vernachlässigung für die Gepflegten bedeutet. Rein aus Überforderung schlitzt niemand Menschen die Kehle auf.
Ja, psychische Probleme sind ernstzunehmen. Und überfordernde Arbeitsumstände können durchaus dazu beitragen. Aber wer die Darstellung „Die Mörderin war wahrscheinlich psychisch krank“ unhinterfragt übernimmt, ...
der übersieht, dass der Normalfall ist, dass Leute mit psychischen Erkrankungen selbst am meisten unter ihrer Erkrankung leiden, aber nicht andere dafür leiden lassen.
Wer dieses Narrativ bedient, der schadet selbst psychisch erkrankten Menschen, weil sie nach solchen Berichten misstrauisch beäugt werden, ob sie wohl gewalttätig werden könnten.
Was ist das, was aus der Pflegerin eine Mörderin gemacht hat, wenn Überforderung oder psychische Erkrankung es nicht ausreichend erklären?

Und da kommt dann das rein, was Behinderten-Aktivisten schon lange fordern: Wie die Gesellschaft über Behinderte denkt, ist wichtig.
Unter den meisten Behinderungen „leidet“ man nicht – sondern eher an mangelnder Rücksichtnahme. Behinderte sind nicht sichtbar genug – in Heimen und Werkstätten fällt es nicht auf, wenn sie schlecht behandelt werden.
Also wünschen wir uns, dass die Getöteten in der Öffentlichkeit einen Namen bekommen, sichtbar werden.

Wenn es selbstverständlich wird, dass Behinderte ein Recht auf Würde haben, ein Recht auf möglichst viel Selbständigkeit, dann folgt daraus die Frage:
Was muss getan werden, damit dies erreicht werden kann?

Und dann kommen wir wieder auf den Anfang: Mit auf Gewinnmaximierung getrimmten Krankenhäusern und Pflegeheimen, die nicht einmal den Standard „Satt und sauber“ ausreichend gewährleisten können, bestimmt nicht.
PS: Wer noch Entscheidungshilfen braucht: Threads im Thread im Thread.
Ich habe eine Fortsetzung geschrieben:

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3 May
Ich blocke ja selten, aber hier von mir einer Blockempfehlung: @ Gode_fridus.

Politikerin bei "Die Partei", setzt sich vehement für Verbesserung der Pflege ein - und benutzt dabei merkwürdige Methoden. Derailing da, wo Pflege zwar auch involviert ist, aber das Thema gerade ...
... etwas Anderes ist. Aktuell in mehreren Threads zu #Potsdam, wo z.B. @outerspace_girl die Frage nach den Opfern der Morde in den Fokus genommen hat. Im März schon in einer Diskussion, wo sie Leuten, die fast ausschließlich zu #NoCovid posten, vorwarf, Corona-Leugner zu sein.
Aufreibend, weil der Punkt "Pflege unterstützen" ja auch richtig ist, und die Beteiligten denken, eine wirkliche Diskussion sein möglich, und sich dann in der Position sehen, sich und ihr Engagement zu verteidigen.

Meine Meinung dazu:
Read 5 tweets
1 May
Ein sehr guter Artikel zu #Potsdam, den vier Morden und der Berichterstattung bei Übermedien.

Auf einen Punkt möchte ich noch einmal gesondert eingehen:

Zwei der im Übermedien-Artikel besprochenen Berichte spekulieren über ein mögliches Tatmotiv ... 1/x
uebermedien.de/59531/der-gefa…
und nennen dabei als denkbar, dass evtl. die Täterin die Behinderten von ihrem Leid "erlösen", Sterbehilfe leisten wollte.

Mal ganz davon abgesehen, dass ein Messer-Angriff wohl kaum ein "gnädiger Tod" ist - sich anzumaßen anzunehmen, dass dort Behinderte ... 2/x
leiden, so sehr leiden, dass der Tod eine Erlösung sei, ist meines Erachtens totale Hybris.

Und mir fällt eine Formulierung ein, die wir z.B. bei Veröffentlichungen zum Thema Autismus immer wieder finden und kritisieren:

"Er leidet unter Autismus", ...3/x
Read 6 tweets
1 May
Ich habe gerade beim Spiegel einen Artikel gelesen über PTBS bei Covid-19-Patienten, die auf der Intensivstation waren, und das hat einige Gedanken bei mir angestoßen. Ich hab selber noch keine Antworten, sondern schreibe das hier mal unsortiert. 1/x
spiegel.de/gesundheit/dia…
Was der Autor des Textes als besonders belastend für die Intensivpatienten beschreibt, sind Dinge, die für Autisten schon im Normalfall belastend sind: Grelles Licht. Dauerndes Gepiepse. Angefasst werden, ohne die Kontrolle darüber zu haben.
2/x
Vor kurzem habe ich etwas darüber gelesen, dass es sinnvoll wäre, Autismus als Grund für eine höhere Priorität beim Impfen anzusehen, da AutistInnen sowieso in Krankenhäusern oft schon überfordert sind, in den Overload geraten, dann in den Meltdown oder Shutdown, ...3/x
Read 5 tweets
30 Apr
Einen Tag nach #potsdam diskutiert Deutschland über Gewalt in Pflegeeinrichtungen für Behinderte.

Da wird mir ein Thread über das #JudgeRotenbergCenter, in dem Gewalt Teil der "Therapie" ist, in die Timeline gespült:

1/x
Ziel dieser "Therapie" ist, dass Autisten ihre Körpersprache verstellen, ihre natürlichen Selbstberuhigungsmethoden unterlassen. Unerwünschtes Verhalten wird mit Elektroschocks bestraft, die Verbrennungen und anscheinend sogar Todesfälle verursacht haben.
2/x
Die amerikanischen Behörden hatten das Elektroschock-Gerät eigentlich verboten, doch wegen Covid-19 wurde das Verbot nicht rechtskräftig, und so wird es weiter benutzt.
3/x
Read 4 tweets

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