Sieht für mich so aus, als hätten wir den Afghanistan-Krieg gegen die Taliban endgültig verloren. Wäre es nicht an der Zeit, Bilanz zu ziehen? Was wir da wollten? Was wir erreicht haben? Was das gekostet hat? Ob wir so was wieder machen sollten?
tagesspiegel.de/politik/bundes…
Ich glaube nicht, dass wir wegen der Afghanen da rein sind, sondern weil wir den Amerikanern nach 9/11 zur Seite stehen wollten. Und auch mal wieder mitspielen in der Welt. Und jetzt? Haben wir das Land aufgebaut und sicher gemacht? Ganz offensichtlich wohl nicht. Aber das ...
...war voraussehbar, dass dem Westen irgendwann die Luft ausgeht. Und nun? Haben wir etwas daraus gelernt? Wollen wir etwas daraus lernen? Ich finde es jedenfalls unsäglich, dass wir wieder einen Krieg verloren haben, auch, wenn es nur ein kleiner Krieg war.
Und gestorben wurde trotzdem. 59 tote Bundeswehrsoldaten, hunderte Schwerverletzte und tausende Traumatisierte. War es das wert? War es notwendig, unsere Bündnistreue mit 59 Menschenopfern zu untermauern?
Oder spielten auch Erwägungen mit, durch echten Kriegseinsatz die Professionalität der Bundeswehr zu erhöhen? Kriegsteilnahme quasi als Manöver unter realistischen Bedingungen? Um unsere Soldaten im echten Feuer zu stählen?
59 tote Soldaten sind jetzt nicht so viel, vor allem in 20 Jahren. Da sind drei mal so viele junge Menschen unter 35 Jahren an Covid gestorben, und über 3000 Menschen unter 60, alles in einem Jahr. Von den über 80.000 Toten ab 60 Jahren gar nicht zu reden.
Aber kann man das überhaupt vergleichen, Kriegs- und Pandemietote? Die toten Soldaten sind Folge von etwas, was wir getan haben, und die Corona-Toten Folge von etwas, das wir nicht getan haben, aber am Ende steckt hinter beidem ein staatliches Kalkül, Menschen zu opfern.
Staaten sind so. Sie messen einem Menschenleben zwar einen Wert zu, bei uns sogar einen recht hohen, aber es gibt über 83 Millionen im Land, und manche müssen sterben, weil der Staat das so in Kauf nimmt oder will.
Mit zunehmendem Wohlstand und Sicherheit in den entwickelten Ländern sind bei uns auch Menschenleben wertvoller geworden, aber das ist ein relativer Wert, kein absoluter, wie es das Grundgesetz suggeriert.
Menschen sind sterbliche Seiteneffekte selbst replizierender Moleküle, unserer Gene, und außerdem Träger und Fortentwickler von Kultur und Zivilisation, mit der sie nach der Geburt angefüllt werden und mit der sie ihre Kinder anfüllen.
Sowohl unsere Gene wie auch unsere Zivilisation sind viel langlebiger als ein Mensch, und viel von dem, was uns ausmacht, gab es vor uns und wird es nach uns geben. Insofern ist ein Mensch in weiten Teilen potentiell unsterblich, nur unser Ego stirbt mit dem Körper.
Eine Person ohne Ego, die nur Funktion ist, wie etwa der Dalai Lama, ist daher unsterblich. Jemand, der den Beruf lebt oder Tradition verkörpert und weitergibt, nimmt an etwas unsterblichem teil und ist umso unsterblicher, je mehr das Ego in den Hintergrund tritt.
Nur wenigen ist vergönnt, dass ihr Beitrag zur Kultur und Tradition so überragend ist, dass er mit dem Namen ihrer sterblichen Person verknüpft ist, die dadurch teilweise Unsterblichkeit erlangt. Die meisten Menschen tragen anonym bei und weiter, und jede Äußerung ...
...hat das Potential, auf Resonanz zu stoßen und Teil der Kultur zu werden, im Kleinen wie im Großen, im Öffentlichen wie im Privaten. Die Tragik eines frühen Todes besteht für mich vor allem darin, sich nicht mehr äußern zu können, obwohl man noch etwas zu sagen gehabt hätte.
Die Soldaten, die in Afghanistan getötet wurden, haben ein kleines Stück Unsterblichkeit erlangt, weil sie Teil von etwas Größeren waren und die Tradition verkörpern, im Kampf für sein Land zu sterben. Ob sie sich das auch so vorgestellt haben, für Deutschland zu sterben?
Die Covid-Toten haben nicht einmal das. Vielleicht stiftet ja die Industrie ein Denkmal für die Covid-Toten, die im Einsatz für die vermeintliche Erhaltung des Bruttosozialprodukts ihr Leben ließen. Und warum klingt das satirisch? Oder verdient das nur medizinisches Personal etc?
Das tragische am Afghanistaneinsatz ist, dass viele Soldaten am Sinn des ganzen zweifeln, und das Opfer der Toten durch das schmähliche Ende des Einsatzes entwertet wird. Eine Art Mini-Vietnam, nur, dass niemand darüber reden will.
Wenn man mit frühem Tod ein Stück Unsterblichkeit erkauft, sollte man auf vertrauenswürdige Vertragspartner achten, und das Bundesministerium für Verteidigung wäre für mich keine erste Wahl, wenn ich mein Leben einsetzte, und Deutschland wertschätzt seine Krieger auch nicht.
Ich hätte mich vielleicht als junger Soldat auch freiwillig für Afghanistan gemeldet, man fühlt sich in dem Alter unsterblich, ist im Einsatz außer Dienst meistens betrunken, und das Leben ist einfach und fokussiert. Jedenfalls in den unteren Rängen.
Ein Gefühl von Geborgenheit, unter Männern Kameradschaft genannt, das ist der eigentliche Mechanismus, mit dem man Soldaten bei der Stange hält und sie dazu bringt, den Selbsterhaltungstrieb zu unterdrücken.
Wer beurteilt jetzt, ob der Afghanistaneinsatz es wert war? Staat und Gesellschaft müssten es tun, aber auf welcher Grundlage? Weil es damals richtig schien? Weil wir beim Krieg gegen den Terrorismus nicht völlig abseits stehen konnten?
"Krieg gegen Terrorismus" war von Anfang an eine völlig bekloppte Idee, die nicht funktionieren kann, weil Terrorismus eine Kommunikationsstrategie ist, die man nicht militärisch bekämpfen kann, sondern mit besserer Kommunikation.
Terrorismus zielt auf die Eroberung geistigen Territoriums ab, des Denkraums, und ist damit eine moderne, der massenmedialen Welt gut angemessene Kommunikationsstrategie, um auf Interessen aufmerksam zu machen. Terrorismus entfaltet seine Hauptwirkung in den Köpfen.
Terrorismus ist eine Inszenierung und der Regel ein rationaler Akt, von geistig gestörten Einzeltätern mal abgesehen. Hinter den meisten Terroranschlägen stecken zudem Staaten oder Interessengruppen,
mit denen man verhandeln kann und meist muss, um Frieden herzustellen.
Die Taliban haben gewonnen. Wir haben verloren. Und niemanden interessiert es so richtig. Wenn ich als Soldat in Afghanistan verletzt oder getötet worden wäre, würde ich mir schon etwas blöd vorkommen. Und als Steuerzahler ebenso. Das war ein miserabler "Return on Investment".

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