Thread by @DetlefGuertler

Bitte, keine «Neue Aufklärung».
Wo Carolin #Emcke falsch liegt.
Und was statt dessen gebraucht wird.
Thread.

Ja, es gibt Lügen. Und es gibt gezielte Desinformation. Wie schon seit Jahrtausenden. Aber es gibt nicht DIE Wahrheit. Gerade eine Wissenschaftlerin sollte das wissen.

Das Infragestellen dessen, was wir zu wissen glauben, ist der Motor des wissenschaftlichen Fortschritts. Wie schon seit Jahrtausenden. «De omnibus dubitandum est» galt für Cartesius, Marx und Popper. Und gilt bis heute.

Und es gibt auch nicht DIE Wirklichkeit. Gerade eine Linke sollte das wissen. Die Wirklichkeit in Gaza ist eine andere als die in Tel Aviv, die in der Bronx eine andere als die der Wall Street.

Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Es gibt so viele unterschiedliche Lebenswirklichkeiten, wie es Leben gibt. Die sozialen Medien haben diese Vielfalt nicht hergestellt – sondern dargestellt.

Aus dieser Vielfalt eine Gesellschaft zu machen, ist Kernaufgabe der Demokratie. Aber das geht nicht, indem man vorgibt, was gefälligst die Wirklichkeit zu sein hat. Und es geht auch nicht, indem man ein verbindliches Gemeinwohl definiert.

Man kann die Lüge bekämpfen. Yo. Mit Gesetzen, mit Aktionen, mit Factchecking. Mein eigenes Experiment dazu (@factwatch) habe ich 2013 gestartet – und nach der Trump-Wahl beendet.

Lügen sind Lügen, und Fakten sind Fakten. Aber wenn die Fakten die eigenen Interessen gefährden, hilft die Aufklärung darüber nicht viel weiter. Trump wurden tausende Lügen nachgewiesen – und er wurde trotzdem gewählt. Oder gar deswegen.

Hier liegt auch ein zentrales Problem der «Neuen Aufklärung»: Wenn es nicht um die Verteilung von Zuwächsen geht, sondern um die von Einschnitten, werden Fakten nachrangig. Das Sein bestimmt das Bewusstsein.

Die Pandemie hat gezeigt, wie eine Gesellschaft im Verzichts-Modus entgleisen kann. Der Klimawandel wird da noch einige Zacken schärfer sein. Darauf mit noch heftiger Entlarvung falschen Denkens zu reagieren, ist elitäre Wagenburgmentalität.

Das zweite zentrale Problem der «Neuen Aufklärung»: das Pochen auf DIE Wissenschaft. «Listen to Science» (Greta Thunberg) ist schlicht apolitisch. Auch das hat uns die Pandemie gezeigt.

Schon wenn man zu #COVID19 «nur» auf die Epidemiologen hörte, ergaben sich daraus völlig entgegengesetzte Handlungsempfehlungen. Und dann kommen noch Soziologie, Psychologie, Ökonomie und viele andere Sciences dazu.

Die Klimaforscher haben beim Klimawandel eine ähnliche Funktion wie die Epidemiologen bei der Pandemie. Und mit der Natur kann man genausowenig verhandeln wie mit einem Virus. Aber das macht noch keine Politik.

Wenn Politik Verzicht begründen will, reicht wissenschaftliche Expertise nicht aus. Dafür braucht Politik entweder einen Feind («blood, sweat and tears») oder eine Perspektive («per aspera ad astra»). Die «Neue Aufklärung» bietet weder das eine noch das andere.

Die «Neue Aufklärung» eignet sich als intellektuelles Fundament einer Öko-Technokratie. Aber wenn wir damit den Klimawandel bekämpfen wollen, zerstören wir Gesellschaft und Demokratie.

Wenn keine «Neue Aufklärung» - was dann?
Ein «Neuer Aufbruch». Reformen und Initiativen, die den Menschen Gelegenheiten geben, aktiv ihre eigene Wirklichkeit zu verbessern. Und damit auch unsere.

Da geht es nicht um EINE Reform. Und auch nicht um ein Parteiprogramm oder einen Koalitionsvertrag. Es geht nicht um ein Bewusstsein – sondern um viele Seins. Es geht um eine Entfesselung der Innovationskräfte der Menschen.

Es geht, um dann doch auf Kant zurückzukommen, nicht um den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten UnMÜNDIGKEIT, sondern um den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten UnTÄTIGKEIT.