Eine häufig gestellte und zentrale Frage für unser Pandemiemanagement. Hier der Versuch eines Überblicks, warum diese Frage zurzeit nicht einfach zu beantworten ist. 1/n
Ein Rückblick: Im ersten Halbjahr 2020 wurde die kontinuierliche aber langsame Mutationsrate als Indiz dafür gesehen, daß SARS-CoV-2 schon gut an den Menschen adaptiert sei und quasi weder Notwendigkeit noch Spielraum besteht, um „bessere“ Viren zu selektionieren. 2/n
Diese Ansicht mußte spätestens mit dem dominanten Auftreten von Alpha (B.1.1.7) ab dem Winter 2020 ad acta gelegt werden. Diese Variante hatte nicht nur >20 Mutationen angesammelt, sondern war v.a. auch um 50% infektiöser als das Ursprungsvirus. 3/n
Weitere Varianten später, und insbesondere der epidemiologische „Siegeszug“ der Delta Variante ab Frühjahr 2021 haben uns gezeigt, daß Alpha kein Einzelfall war. Es entstehen neue Varianten, die leichter übertragbar sind (mit zum Teil schwereren Krankheitsverlauf). 4/n
Darüber hinaus haben einige SARS-CoV-2 Varianten (z.B. Beta, Gamma und Delta) Eigenschaften angesammelt, die es ihnen ermöglichen, der Immunantwort besser zu entkommen.
Was bedeutet das für den kommenden Winter und die weitere Pandemie? 5/n
Wie schon eingangs erwähnt, wirklich wissen kann das keiner. Im Hinblick auf eine Risikoabschätzung kann man aber Fragen zu Teilaspekten zu stellen. Als da z.B. wären:
Inwiefern beeinflussen sich neue Varianten und die Impfung gegenseitig? Hierzu gibt es grob zwei Aspekte: 6/n
Je weniger Virus zirkuliert, umso weniger Chancen hat es sich weiterzuverändern (und knifflige Kombinationen an Mutationen anzuhäufen). Gleichzeitig stellt die Immunantwort einen Selektionsdruck da, der Varianten mit weiteren Immunescape Eigenschaften begünstigen könnte. 7/n
Wie sehr kann sich das Virus überhaupt noch verändern?
Das ist trotz Vorhersagen basierend auf den bisherigen Mutationsmuster und diverser Theorien nicht klar. Eine Vermutung ist, daß Immunescape mit Fitnessverlust des Virus einhergeht (trade-off). Kann, muß aber nicht. 8/n
Wird das Virus sich selber abschwächen? Kann sein, oder auch nicht. Die Frage dabei ist auch, ob wir von Monaten, Jahren, Jahrzehnten sprechen.
Wird das Virus weiter an Infektiösität zunehmen? Die Varianten deuten darauf hin, aber um wie viel? Masern ist 3x so infektiös. 9/n
Könnte das Virus seinen Infektionszyklus und die Biologie deutlich ändern?
Ist nicht völlig auszuschließen. Es könnte in anderen Bereichen des Atmungstrakts oder auch in anderen Organsystemen vermehrt replizieren, die angeborene Immunantwort effizienter unterlaufen, 10/n
zu unterschiedlichen Symptomen führen, länger/kürzer replizieren, unterschiedliche Antworten der Zellen und Organe hervorrufen, etc. All dies könnte Auswirkungen auf die Übertragung, den Krankheitsverlauf und das epidemiologische Geschehen haben. 11/n
Kann SARS-CoV-2 neuen evolutionären Wegen folgen?
In Nerzfarmen wurde schon 2020 in NL & DK beobachtet, daß es in einer Tierspezies parallel evolvieren und wieder zurück auf den Menschen springen kann. Siehe auch preliminäre Antikörperdaten in Hirschpopulationen in USA. 12/n
Könnte SARS-CoV-2 Teile eines anderen Coronavirus per Rekombination und damit z.B. ein völlig neues Spikeprotein erwerben? Coronaviren können an sich recht gut rekombinieren. Bis dato gibt es aber eher unklare Evidenz über die Relevanz dieses Mechanismus für SARS-CoV-2. 13/n
Welche Rolle spielen Mutationen außerhalb des Spikeproteins?
Virologisch steht es außer Frage, daß Mutationen im gesamten Virusgenom das Infektionsgeschehen verändern könnten. Man findet dort auch viele Mutationen, deren Effekt zu eruieren ist aber deutlich schwieriger. 14/n
Was sagen uns all diese unzufriedenstellenden Antworten? Daß wir uns eingestehen müssen, daß wir den Faktor Virus nicht völlig einschätzen können. Unkontrollierte Viruszirkulation vereinfachen dabei neue Kombinationen an Mutationen nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit. 15/n
Es bedarf weiterer Anstrengungen, um möglichst gut auf diverse Szenarien vorbereitet zu sein („pandemic preparedness“): Virus-Monitoring, zeitnahe Datenintegration & Modellierungen, verbesserte Public Health Richtlinien, offene Kommunikation, Impfstoffe und Therapien, usw. 16/n
Die gesamte Wissenschaft -und nicht nur die Naturwissenschaften- wird dabei weiterhin gefordert sein und sollte entsprechend gefördert werden. Die erzielten Erkenntnisse werden auch für das Management zukünftiger Krisen (nicht nur Pandemien) von großem Wert sein. 17/n
PS: Danke an viele Kollegen für die inspirierenden Diskussionen. Zwei interessante aktuelle Übersichtsartikel zur Thematik in Science (von @kakape) und Nature
Kreative & konstruktive Ansätze:
(Nicht jeder von mir; nicht alles todernst; weitere ausgefallene & gut gemeinte Ideen hinzufügen) #thinkpositive
1. Die Corona App wird relaunched & massiv beworben, sodaß mehr ÖsterreicherInnen aktiv am elektronischen Contact tracing teilnehmen.
2.Die österr. Medienlandschaft einigt sich auf einen Wochentag, an dem die Wörter „Pandemie“, „Corona“ und „Virus“ nicht mehr vorkommen. Stattdessen werden Good News transportiert und es wird unterhalten, um der Pandemiemüdigkeit den Kampf anzusagen.
3.Wir bilden Buddy Systeme am Land und in der Stadt, so dass einige wenige Nachbarn sich um Risikopersonen kümmern, für sie einkaufen, etc.
Neue Virusvariante B.1.1.7+E484K in Tirol – warum ist das ernst zu nehmen?
Es wurden in Tirol viele Fälle der UK Variante B.1.1.7 mit der zusätzlichen Mutation E484K (=VOC 21FEB-02 bzw. VOC-202102/02) gefunden. E484K steht im Zusammenhang mit Antikörper Escape. 1/10
SARS-CoV-2 Teilgenomsequenzierungen durch @EllingUlrich@LCochella@IMBA_Vienna@IMPvienna@agesnews haben bestätigt, daß es in Tirol >100 Fälle mit einer modifizierten UK Variante B.1.1.7 plus dieser Mutation E484K gibt. 2/10
B.1.1.7+E484K wurde zum ersten Mal Ende Jänner im UK gefunden. Zusätzlich ist diese Variante u.a. in Oregon, USA unabhängig entstanden. International gab es mit gestern erst 108 solcher Genome in der internationalen Datenbank @GISAID. 3/10
1) Es gibt ein Ost-West Gefälle von B.1.1.7. 2) Die neuen Virusvarianten verteilen sich regional sehr unterschiedlich. 3) B.1.1.7 ("UK Variante) ist insgesamt auf dem Vormarsch 4) B.1.351 ("SA Variante") findet sich vorwiegend in Tirol. 2/7
Burgenland: KW1->4: 1.7 auf 37% B.1.1.7 (von n=765)
Wien KW2: 15% B.1.1.7 (von n=256), zuletzt 30% B.1.1.7; Einzelfälle von B.1351; 17% B.1.17 im Abwasser
NÖ: 15% B.1.1.7 (n=560); KW2: 71% B.1.1.7 in Abwasser Bad Vöslau
Stm: 3.5% B.1.1.7 (Mitte Jän; n=777) auf 26% (n=50) 3/7
@CeMM_News@oeaw@agesnews Team hat SARS-CoV-2 UK Variante VO-202012/01 (alias B.1.1.7 bzw. 501Y.V1) und Südafrika Variante 501Y.V2 (alias B.1.351) in Österreich detektiert. Projektwebsite: sarscov2-austria.org 1/n
Virussequenzierungen über die Feiertage haben die UK Variante bei 4 Personen und die Südafrika Variante bei 1 Person identifiziert. 4 der Personen wurden am Flughafen Wien positiv getestet und 3 Personen hatten Reisehintergrund zu UK bzw. SA. 2/n
Was bedeutet das? Erstmal ist das nicht unbedingt überraschend, da die UK Variante schon in 33 Ländern und die SA Variante in zumindest 7 Ländern gefunden wurde. Gleichzeitig gibt es damit nun den konkreten Beweis, daß diese Virusvarianten in Ö angekommen sind. 3/n
SARS-CoV-2 sammelt ca. 2 Mutationen jedes Monat in seinem 30.000 Buchstaben langen Genom an. Doch was braucht es, um diese Mutationen zu verstehen und gegebenfalls darauf zu reagieren? Ein paar allgemeine Überlegungen mit Fokus auf Österreich: 1/n
Wie identifiziert man in der Bevölkerung zirkulierende Mutationen?
Jedes Land folgt einer anderen Strategie. UK hat 20M für Virussequenzierungen bereit gestellt. In Ö stammen >98% der Virusgenome von unserer Kollaborationsplattform (@CeMM_News@oeaw@MedUni_Wien@agesnews ). 2/n
Wie viele Viren werden in jedem Land sequenziert?
Anzahl an Virussequenzen (aus Datenbank @GISAID), dividiert durch Anzahl bisher bestätigter SARS-CoV-2 Fälle (@JohnsHopkins):
DK0,12%
UK0.062%
CH0.0088%
NL0.0049%
AT0.0027%
IL0.0012%
FR0.0011%
IT0.00049%
HU0.00090%
3/n