Ihr kennt ja mittlerweile viele Erzählungen aus dem Normalbetrieb von Notaufnahmen.

Aber was passiert eigentlich bei Katastrophen?

Ein #Thread.

Es beginnt harmlos:
Ein Anruf der Leitstelle, wie wir sie oft kriegen. Man nimmt ab, sagt seinen Spruch - dann endet die Normalität.
Wichtig:
"Katastrophe" heißt in dem Kontext nur, dass in sehr kurzer Zeit sehr viele Menschen behandelt werden müssen.
Es gibt zwei große Gruppen von Szenarien:
Chirurgische und Internistische Großalarme.

Ein Reisebusunfall wäre natürlich ein chirurgisches Szenario, ein Norovirus-Ausbruch im Seniorenheim ein internistisches.
Diese Szenarien - häufig mit "C" bzw. "M" abgekürzt - sind nochmals je nach zu erwartendem Patientenaufkommen abgestuft.
Jedem einzelnen Szenario liegen Alarmpläne zugrunde, in denen alles genau festgelegt ist: wie viel Personalbedarf wo besteht, welche Abteilung welche Vorbereitungen treffen muss etc.
Der Anruf von der Leitstelle wird sofort an den diensthabenden Facharzt - Unfallchirurg bei "C", Internist bei "M" - weitergeleitet.
Er muss entscheiden, wie viele Patienten aufgenommen werden können und legt somit fest, welches Katastrophenszenario für die Klinik ausgerufen wird
Wichtig:
Das Katastrophenszenario der Leitstelle und der Klinik unterscheiden sich!
Die Patienten werden nämlich meist auf mehrere Kliniken verteilt, sodass dort niedrigere Szenarien ausgerufen werden.
Für meine Klinik (Maximalversorger) gilt:
9 Patienten schaffen wir ohne Großalarm, ab dem 10. beginnen unsere Katastrophenpläne.

Tritt ein solches Szenario ein, lösen wir als Notaufnahme den Katastrophenalarm für die Klinik aus.
Wir informieren eine andere Abteilung, die dann für uns die restliche Klinik alarmiert. Außerdem informieren wir unsere Patientenlogistik und den Sicherheitsdienst.
Mit dem Katastrophenalarm wird das Klinikgelände Sperrgebiet - Sicherheitsdienst und Polizei riegeln alles ab, rein dürfen nur noch Patient*innen und Personal.

Über spezielle Alarmlisten werden alle Mitarbeiter*innen automatisch informiert:
Ärzt*innen, Pflegekräfte, Verwaltung.
Man kann direkt am Telefon mitteilen, ob man kommt oder nicht - und nimmt dann die Beine in die Hand.

Bei C-Szenarien werden je nach Plan OP-Säle geblockt und notfalls nicht lebensnotwendige OPs abgebrochen.
Alle Stationen melden jedes freie Bett - und sei es ein Flurplatz - schriftlich an die Notaufnahme.

In der Notaufnahme selber läuft noch viel mehr ab:
Jede*r Patient*in, die nicht lebensbedrohlich krank ist, wird umgehend entlassen.
Die Reinigung reinigt mit Hochdruck jedes freiwerdende Bett, jeden Bettplatz, jedes Gerät das in Benutzung war. Die Sichtungsstelle wird eingerichtet und Abläufe nochmals geübt.

Die Materialwirtschaft schickt der Notaufnahme, was das Lager hergibt.
Die Blutbank bereitet in großem Umfang Blutkonserven vor. Die Klinikumsapotheke schickt einen Mitarbeiter, der Medikamentenbedarf direkt aus der Notaufnahme koordiniert.

Dann treffen die Rettungswägen ein.
Jede*r Patient*in - egal ob mit Rettungsdienst, zu Fuß oder im PKW - muss jetzt durch die Sichtungsstelle. Der eingewachsene Zehennagel genauso wie der mögliche Herzinfarkt. Und alles, was nicht potenziell lebensbedrohlich ist, wird weggeschickt.
Jede*r Patientin bekommt binnen maximal 2 Minuten einen schnellen Bodycheck, eine Identifikation, eine Übergabe an das Klinikpersonal und einen Behandlungsplatz zugewiesen.
Die Behandlungsplätze unterteilen sich nach Schweregrad - wir verwenden zur Einteilung die ESI-Skala - und werden dort schnellstmöglich versorgt und weitergeschickt, damit die Notaufnahme nicht vollläuft.
Angehörige, die Patient*innen suchen, werden zu einer zentralen Sammelstelle geleitet.
Die Verwaltung rotiert auf Hochtouren, um jede*n Patient*in digital zu erfassen. Diese Daten werden dann dem Personal an der Sammelstelle zur Verfügung gestellt.
Zwangsläufig eintreffende Journalist*innen werden zur Pressesammelstelle geschickt.

Ist der Patientenansturm an der Sichtungsstelle vorbei, wird sie wieder aufgelöst und die Notaufnahme wechselt wieder zum Normalbetrieb.
Der Katastrophenalarm für die Klinik hingegen bleibt so lange bestehen, bis die Klinikeinsatzleitung ihn offiziell beendet - meist erst dann, wenn keine zusätzlichen Kapazitäten mehr erforderlich sind.

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23 Aug
So geht #Hochleistungsmedizin:

Ein Thread.

1/x

M55 bricht daheim beobachtet leblos zusammen. Laienreanimation über sechs Minuten, dann ist der RTW da und übernimmt.
Laut EKG Asystolie, also weiter Herzdruckmassage. Zwei Minuten später ist der Notarzt da.
2/x
Mit vereinten Kräften und Medikamenten bringt man das Herz wieder zum Schlagen. Schwach, erkennbar geschädigt durch einen massiven Hinterwandinfarkt, aber es schlägt.
3/x
Der Patient wird in den herbeigeeilten Helikopter geladen und mit Höchstgeschwindigkeit an vier Kliniken vorbei zu uns in den Maximalversorger geflogen.
Read 15 tweets
9 Jan
Okay, los geht's mit dem Fall🙃

Ihr arbeitet im Maximalversorger.
Der Notarzt bringt euch einen 63jährigen mit starken Schmerzen im Bein (insbes. im Knie) & deswegen Verdacht auf pathologische Fraktur.
Als er da ist, fällt euch außerdem eine leichte Atemnot auf. Was tut ihr?
Natürlich hat der Notarzt initial die Sättigung gemessen (92% bei Raumluft), aber die Atemnot macht unsere Unfallchirurgen so stutzig, dass sie den Patienten umgehend an die Internisten abgeben.

Diese erheben folgende eigene Anamnese:
Sie nehmen Blut ab, streichen für den Covid-Test ab und verfrachten den Patienten ins Bett.

Was ist nun der nächste Schritt?
Read 14 tweets

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