Der Bundestag hat gestern beschlossen, das Infektionsschutzgesetz zu ändern. Leitindikator ist künftig die Zahl der Hospitalisierungen, ergänzt durch Inzidenz, Intensivbettenbelegung und Impfquote.
Die Entscheidung hat epidemiologische, praktische und politische Aspekte, daher 🧵
Anlass des Ganzen ist der Impfeffekt: Geimpfte infizieren sich nicht nur seltener, sie haben ggf auch viel seltener einen schweren Verlauf. Die Inzidenz schlägt sich daher nicht im gleichen Maße auf die Krankheitslast nieder wie bislang.
zeit.de/gesundheit/202…
Verliert die Inzidenz deshalb an Bedeutung? Ich finde nicht - man muss sie nur neu kalibrieren. Aus meiner Sicht ist die Entscheidung daher verkehrt.
Man muss aber auch sagen, dass viele Experten das anders sehen und schon länger eine Abkehr von der Inzidenz fordern. Für beides gibt es gute Argumente. In der Wissenschaft ist das Thema umstritten.
zdf.de/nachrichten/po…
Ziemlich offen sind Fragen der konkreten Umsetzung. Im ersten Gesetzentwurf stand dazu fast nix. In der finalen Fassung steht nun zumindest, dass die Hospitalisierungsdaten einheitlich vom @rki_de kommen und "werktäglich" mindestens auf Länderebene veröffentlicht werden sollen.
Das ganz große Datenchaos dürfte damit zumindest verhindert sein - immerhin veröffentlicht nicht wieder jedes Land seine eigenen Zahlen wie in den Anfangstagen der Pandemie (so hatte ich den ersten Gesetzentwurf gelesen).
Aber: Stand heute gibt es diese Zahlen vom RKI so nicht. Und die dürftigen Hospitalisierungszahlen, die wir bislang kennen, werfen eine Menge Fragen auf - weshalb wir den Leitindikator schon Light-Indikator genannt haben
Was das Gesetz völlig offen lässt: Welche Grenzwerte gelten - und welche Regeln greifen bei deren Überschreitung? Da befürchte ich im Herbst ein großes Chaos und Geschachere bei den Ländern.
Andererseits: In gut zwei Wochen wählen wir einen neuen Bundestag. Die Bundesregierung ist bald darauf nur noch geschäftsführend im Amt, vielleicht ohne eigene Mehrheit. Wer weiß wie lange Koalitionsverhandlungen dauern. Vielleicht klug, das Steuer an die Länder zu geben?
Wie man sich einem sinnvollen Hospitalisierungsgrenzwert annähern könnte, hat @HKuechenhoff mit Team hier für Bayern durchgerechnet covid19.statistik.uni-muenchen.de/pdfs/codag_ber…
Berechtigte Kritik gibt es auch an der Art und Weise, wie die Änderung des Infektionsschutzgesetzes quasi ohne Debatte durch den Bundestag gebracht wurde (via @andkiessling) verfassungsblog.de/wie-sich-das-p…
Hier noch die Textpassage im neuen Gesetz dserver.bundestag.de/btd/19/322/193…

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11 Sep
Die Hospitalisierungen sind nun gesetztlicher Leitindikator für den Kampf gegen Corona. Doch die Daten des @rki_de unterschätzen die Lage systematisch. Der echte Wert liegt ca 80% über dem gemeldeten, zeigt unsere Recherche mit @elena_erdmann @zeitonline.
zeit.de/wissen/2021-09…
Die Ursache liegt in der Berechnungsmethode des RKI. Fälle werden nicht dann gezählt, wenn sie ins Krankenhaus kommen, sondern wenn sie erstmals PCR-positiv waren.Das kann Wochen vorher passieren, so entstehen große Verzerrungen.
Mit ca 4 Wochen Abstand sind die RKI-Daten ziemlich zuverlässig - aber das ist nutzlos. Der Leitinidkator soll ja zur schnellen Reaktion auf die Lage dienen. Die jeweils aktuellen Tageswerte sind trügerisch, weil systematisch zu niedrig.
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4 Aug
In einem Strategiepapier hat das @BMG_Bund skizziert, wie man im Herbst auf steigende Infektions- und Hospitalisierungen reagieren könnte. Das Papier soll die Ministerpräsidentenkonferenz kommende Woche vorbereiten.

Ein zentrales Konzept darin: "2G statt 3G" 🧵
Die 3G stehen für Geimpft, Genesen oder Getestet. Ab September soll eins davon Voraussetzung sein, um Innengastro, Großveranstaltungen, Fitnesstudios etc besuchen zu können.
Wenn die Zahlen trotzdem weiter steigen, soll aus den 3G ein 2G werden. Das heißt: Testen reicht dann nicht mehr. Wer ungeimpft ist (und noch kein Covid-19 hatte), darf nicht mehr ins Restaurant oder Fitnessstudio. Konkrete Grenzwerte dafür nennt das BMG nicht.
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23 Jul
Vergangene Woche haben @bmg_bund und @rki_de die Hospitalisierungen als neuen "Leitindikator" für die Pandemiebekämpfung eingeführt. Doch aus dem Leit- ist ein Light-Indikator geworden, zum Steuern durch die vierte Welle kaum geeignet. Was ist passiert? 🧵
Die Hospitalisierungen (also Krankenhaus-Aufnahmen von Covid-Patienten) sind in vielen Ländern schon lange ein zentraler Indikator. Er zeigt die Zahl der ernsthafteren Erkrankungen und steht damit zwischen Inzidenz der Neuinfektionen und Intensivpatienten.
In der vierten Welle ändert sich das Verhältnis von Infizierten und schweren Verläufen. Niemand weiß genau, wie sich die Inzidenz künftig auf die Krankenhaus-Last auswirkt. Daher wird ein Monitoring besonders wichtig.
Read 12 tweets
22 Jul
Das @rki_de hat heute ein Papier gedroppt mit Prognosen und Empfehlungen für Herbst/Winter. rki.de/DE/Content/Inf… Lohnt sich in Gänze zu lesen. Hier nur notizbuchhaft ein paar Punkte, die ich interessant fand:
Eine erneute Intensiv-Welle kommt in jedem der modellierten Szenarien. Je nach Impfquote und Verhalten liegen in der Spitze unter 1000 bis über 6000 Menschen auf Intensiv (bisheriger Peak waren ca 6000).
Besondere Sorgen macht sich das RKI um die Pflegeheime: "Ein denkbares Szenario ist, dass bei hochbetagten Menschen mit zunehmendem zeitlichem Abstand zur Impfung vermehrt Impfdurchbrüche auftreten können, so dass es in Pflegeheimen zu schweren COVID-19 Ausbrüchen kommen kann"
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22 Jul
"200 ist die neue 50", sagte @jensspahn gestern zur neuen Interpretation der Inzidenz in einer teilgeimpften Bevölkerung (ab 57:07). Diese π mal👍 Angabe deckt sich mit unseren Recherchen. Aber was bedeutet das? 🧵
twitter.com/i/broadcasts/1…
Die gleiche Inzidenz wird in der vierten Welle zu weniger ernsthaften Erkrankungen führen als bislang. Das liegt an zwei Faktoren: a. Risikopatient:innen (60+) sind häufiger geimpft als der Rest, b. Impfung schützt besser vor schwerem Verlauf als vor Infektion.
Die Zahl der schweren Verläufe lässt sich an den wegen Covid-19 belegten (Intensiv-)Betten im Krankenhaus messen. Das Verhältnis aus Krankenhauspatienten und Infizierten wird sich *etwa* um den Faktor 4 ändern.
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7 Jul
Ein Gedanke zu geschwänzten Impfterminen, der im Text keinen Platz hatte und ohnehin eher theoretischer Natur ist, aber eine nette mathematische Spielerei: Die Impfzentren könnten von den Fluggesellschaften lernen. 🧵
Dort kalkuliert man immer ein, dass ein paar Leute nicht kommen – und verkauft mehr Tickets als der Flieger Plätze hat. Dieses Überbuchen ist natürlich ein Spiel mit dem Risiko, denn es kann immer passieren dass doch mehr Passagiere kommen als erwartet.
So kommt es, dass man als Passagier gelegentlich ein Upgrade in die Business-Class bekommt oder das Angebot, gegen Geld auf den nächsten Flieger auszuweichen. So lässt sich das Problem meist lösen.
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