Ständig trifft man bekannte Gesichter: Kollegen, Familie, Freunde. Stellen Sie sich vor, Sie hätten nicht die Fähigkeit, diese Gesichter zuzuordnen. Sie erkennen sie einfach nicht. Schwierig, oder? Ich gehöre zu den Menschen mit diesem Problem und möchte dazu etwas sagen. |1
2| 2,5% der Leute, rund 2 Millionen Menschen in Deutschland, kommen mit einer solchen Gesichtserkennungsschwäche (kongenitale Prosopagnosie) zur Welt, in meinem Fall zum Glück recht milde ausgeprägt. Das ist knifflig genug, aber immerhin erkenne ich mich noch selbst im Spiegel.
3| Die Schwäche selbst ist nicht behandelbar. Es bleibt Betroffenen nur, Strategien zu entwickeln, damit umzugehen und soziale Hürden möglichst elegant zu umschiffen. Was das für den Alltag bedeutet, darauf möchte ich an meinem (nicht extremen) Beispiel gerne aufmerksam machen.
4| Ich bin bei den meisten Leuten nicht sicher, ob sie wirklich sind, wer sie zu sein scheinen. Ich kann Gesichter Personen zwar zuordnen, aber nicht zuverlässig. Nicht schlimm, wenn ich eine Kollegin im Büro sehe. Das wird sie schon sein. Aber zufällig auf der Straße? Schwierig.
5| Auch nach vielen Staffeln einer Serie muss ich meine Frau noch fragen, wer in einer Szene ist. Andere Klamotten, Haare, keine Brille: Schon erkenne ich die Leute nicht mehr. Dabei habe ich ein sehr gutes Gedächtnis. Sagt sie mir den Namen, weiß ich alle Details zur Person.
6| Wenn ich in die Bahn einsteige und jemanden sehe, der mir vertraut vorkommt, kann ich nicht sicher sein. Es könnte jemand sein, den ich seit vielen Jahren kenne, oder eben ein Wildfremder mit vager Ähnlichkeit. Ich muss abwarten, ob ich gesehen und vielleicht begrüßt werde.
7| Manchmal werde ich von Leuten gegrüßt und in ein Gespräch verwickelt und ich habe keinen Schimmer, wer das sein soll. Wie geht's euch so? Alles OK mit den Kindern? Usw. Ich habe mich schon durch ganze Konversationen im Supermarkt gekämpft und nie erfahren, mit wem eigentlich.
8| Mit extrem vertrauten Menschen ist es besser, aber Sicherheit gibt es nicht. Ich habe immer Sorge, dass ich meine eigenen Kinder nicht erkenne, wenn sie mit anderen aus dem Schulgebäude kommen. Ich suche aktiv nach Hinweisen: Schulranzen, Jacke usw. Das finde ich furchtbar.
9| Sie können sich vorstellen, dass man sich mit diesem Handicap nicht gerade unbeschwert in soziale Situationen stürzt. Natürlich registriere ich die Irritation der Leute, wenn mal etwas schiefgeht. Ich versuche aber, mich nicht bremsen zu lassen. Ich lebe gut und bin zufrieden.
10| Dieser Thread ist mir aber ein Anliegen, weil Betroffene oft selbst gar nicht merken, dass sie mit Gesichtserkennung Probleme haben. Ein Bewusstsein dafür hätte mir als Kind enorm geholfen. Deshalb habe ich mich entschlossen, hier ausnahmsweise etwas so Privates zu schreiben.
11| Wenn Sie Probleme mit Gesichtern haben, können Sie mit dem Cambridge Face Memory Test eine erste wissenschaftlich validierte Einschätzung Ihrer Fähigkeiten erhalten. Ansonsten können Sie dem Thema mit einem Retweet Verbreitung schenken. Vielen Dank.

bbk.ac.uk/psychology/psy…

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20 Sep
"Eine Nymphomanin ist eine Frau, die von Sex so besessen ist wie ein durchschnittlicher Mann", wird die amerikanische Autorin Mignon McLaughlin gerne zitiert. Ganz falsch ist das nicht: Männer und Frauen haben eine sehr verschiedene Libido. Warum, das steht in diesem Thread. |1
2| Was folgt, führt eine Idee aus diesem Thread aus (Link): Evolutionär gesehen bestehen Geschlechterunterschiede bei der Partnerwahl u.a., weil Frauen die Kosten der Fortpflanzung tragen. Männer können, müssen aber nicht viel in Nachwuchs investieren.

3| Das macht Frauen wählerisch und vorsichtig (Thema letztes Mal). Anders bei Männern, für die unverbindlicher Sex evolutionär eine zielführende Strategie ist. Das hat die Entstehung von psychologischen Merkmalen begünstigt, die solches Verhalten fördern und effektiv machen. Q1
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19 Sep
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2| Ein SSRN-Paper von @FlorianGallwitz und @MichaelKreil überprüft, ob medial vielbeachtete Behauptungen dieser Natur einer genauen Prüfung standhalten. Ihr Urteil ist sehr deutlich und unter dem Strich (jedenfalls für mich) doch überraschend. Hier ein Auszug aus dem Fazit: Image
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16 Sep
Lohnt es sich für Arbeitgeber wirklich, viel Zeit und Geld in die Zufriedenheit ihrer Mitarbeiter zu investieren? Oder ist Zufriedenheit nur ein nettes Detail, aber unter dem Strich kein relevanter Performancefaktor? Ein Blick in die Daten |1
2| Wie zufrieden Menschen in Deutschland mit ihrem Job sind, ist gar nicht so einfach zu sagen. Eher oder sehr unzufrieden seien 25%, sagt eine aktuelle Studie, 11% eine andere. Eine Umfrage von Ernst & Young findet 21% Unzufriedene (vor Corona), Tendenz steigend (Bild). Q1
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14 Sep
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3| Und falls Sie sich jetzt fragen, woher man wohl Informationen zum Body Mass Index von Spitzenpolitikern der Exekutive bekommt: Der Autor greift auf einen Algorithmus zurück, der den BMI (offenbar) anhand von Fotos schätzen kann.
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12 Sep
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