Vor knapp drei Jahren kam der IPCC Spezialbericht zum 1,5°C Ziel raus. Der hat mich in ne dreiwöchige komplett lähmende Depression geworfen. Oder eher: die ausbleibenden Reaktionen darauf in Politik und Medien.

🧵zum Umgang mit Frust und Demobilisierung in der Klimabewegung
Es war damals einfach nicht mehr als eine Tagesmeldung, dass wir in wenigen Jahren weitreichende und nie dagewesene Veränderungen in allen Bereichen unserer Gesellschaft vollziehen müssen, um dieses Ziel zu erreichen.

Ungefähr zwei Tage hats gedauert, bis die Meldung wieder
komplett aus der Debatte verschwunden war. *Nichts* wurde angestoßen. Alles ging einfach weiter.

Was mir aus der Depression rausgeholfen hat war, dass der Guardian immer wieder über diese neue Gruppe Extinction Rebellion in London berichtet hat.
Und ich wusste ziemlich schnell, wenn es noch ein paar Leute gibt, die das auch in Deutschland machen wollen, bin ich auf jeden Fall dabei.

Zwischen damals und jetzt liegen für mich viele erste Male: Erstes Aktionstraining, erste Aktionsplanung, das erste Mal vor der Polizei
wegrennen, das erste Mal Straftatvorwurf, das erste Mal auf der Straße schlafen und Massenaktion mit mehreren Tausend Leuten, die ersten Gespräche mit Bürgermeister:innen und Abgeorneten.
Endlich hatte ichs geschafft, das wirklich zu machen, was ich schon lang davor hätte machen wollen: Gemeinsam Druck aufbauen für eine andere Politik, die plötzlich total möglich erschien.
Ich mein, die Demos am 20.9.2019 - gestern vor zwei Jahren - haben an vielen Orten zahlenmäßig die Nachkriegsrekorde gebrochen. Und die Klimasorgen der Bevölkerung und der Wunsch nach ambitionierter Klimapolitik ging in den Umfragen durch die Decke.
Dann fing aber auch schon das an reinzuhauen, was man als Bewegungstrauma bezeichnen könnte. Politische Verarbeitungsversuche, die im Angesicht der Tatsachen schon auf den ersten Blick so bitter unzureichend waren.
Es wurde klar, dass die gebetsmühlenartige Wiederholung von "das wäre nicht mehrheitsfähig" nichts als ein Feigenblatt war, eine halbherzige Rechtfertigung für die eigene Untätigkeit und Inkompetenz.
Die Mehrheiten waren da, die öffentliche Debatte war da, die überwältigenden Ausdrücke von Aufbruchsstimmung waren da & trotzdem wurde das Klimapäckchen - einfach so ein unverschämter Hauch von Nichts - in einer langen Nacht schnell zusammengeschustert. Ein F*ck you an alle, die
ihre Freizeit monatelang in Erklärarbeit, Care-Arbeit und Bewegungsorga gesteckt haben, und an die jungen Generationen natürlich eh.
Ich kenne kaum ein*e Aktivist*in, die sowas Wirkungsloses nach den Mobilisierungen und der monatelangen medialen Dauerschleife zu den Klimaprotesten auch nur ansatzweise erwartet hätte. Der zweite Schlag war dann der völlig unbeeindruckte Durchwinker der Kohleverlängerung bis
2038 im Bundestag kurz vor der Sommerpause 2020.
Der Bundestagswahlkampf dieses Jahr ist für mich der dritte heftig zermürbende Moment. Während immer mehr Leuten klar wird, dass wir parismäßig extrem off track sind und klimatisch so ziemlich alles um uns herum
Kollapserscheinungen zeigt: Der Golfstrom, der südliche Amazonasregenwald, der Jet Stream, Permafrost, die Arktis sowieso und die Artenvielfalt ja eh, ist dieser Wahlkampf ein Eiertanz von grotesker Bedeutungslosigkeit.
Es werden keine substanziellen Fragen gestellt und selbst die Antworten auf diese Fragen sind bei manchen mehr als bei anderen einfach erschreckend oft schamlose Lügen.

Ich muss sagen, ich bin echt am Ende. Ich hätt nicht gedacht, dass die Institutionen in so schlechtem Zustand
so lernunfähig und unbeweglich sind. Und ich frag mich, was das für die Klimabewegung bedeutet. Sie wird weitermachen und mit Verschärfung der Krisen wahrscheinlich auch radikalisieren. Aber das allein wird wohl nicht bedeuten, dass sie wirksamer wird.
Ich wünsch mir, dass wir eine aktive und gemeinsame Vorstellung davon entwickeln, dass wir einen Systemwandel erreichen können. Sonst ist das, was wir tun einfach nur die permanente Wiederaufführung des gesellschaftlichen schlechten Gewissens, die
mühelos neben dem Weiterso herlaufen kann & ihm nie wirklich gefährlich wird. Zeitverschwendung.

& ich glaub, dass eine krass kollektiv mobilisierende Kraft darin liegt, solche Rückschlagsmomente gemeinsam als Zäsur zu benennen, die uns dazu bringt, unsere Strategien anzupassen.
Ein Problem dabei ist, dass wir versuchen, unseren Frust allein oder in kleinem Rahmen in der Bezugsgruppe zu besprechen, um die Schwere und Verzweiflung aus unseren Strukturen rauszuhalten, damit wir kollektiv handlungsfähig bleiben. Das mag manchmal gut und nötig sein.
Aber langfristig kann es auch dazu führen, dass sich die Praxis zu weit von unserem gemeinsamen Anspruch an sie entfernt.

Vielleicht brauchen wir auch als Bewegungen mal einen Moment der Ehrlichkeit: Wo stehen wir rhetorisch und ist das im Einklang mit unserer Praxis?
Wo wurden unsere Annahmen erschüttert? Wo waren sie vielleicht zu naiv? Wo haben wir unsere Wirksamkeit nicht so ganz ausgeschöpft? Welche Erlebnisse haben wir einfach beiseite geschoben und weiter gemacht? Aber auch: was hat gut funktioniert? Was haben wir aufgebaut?
Wo liegt die Energie & Neugier? Gibt es eine Theorie der Veränderung, die uns nach diesen Rückschlägen noch überzeugt? Wenn nein: Lasst uns eine neue schaffen.

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