Ich hatte heute ein Vorstellungsgespräch, in dem die junge Bewerberin mit großem Selbstbewusstsein sagte, sie sei eine hervorragende Multitaskerin. Ich habe das im Gespräch nicht kommentiert, hole das jetzt aber gerne für alle nach: nein, sind Sie nicht. Hier sind die Daten. |1
2| Multitasking heißt landläufig: mehrere Dinge zeitgleich tun. So geht das aber i.d.R. nicht, weil das Gehirn immer nur eine kognitiv schwierige Aufgabe schafft. In Wahrheit ist Multitasking das Hin- und Herwechseln zwischen Aufgaben. Die Forschung sagt oft Task Switching dazu.
3| Konzentriertes Denken funktioniert zeitgleich nur zusammen mit sehr habitualisierten Tätigkeiten, Laufen z.B., und selbst da nicht gut. Plastisches Beispiel: In einem Versuch übersehen Fußgänger mit Handy am Ohr doppelt so oft einen einradfahrenden Clown wie die ohne Handy. Q1
4| Die Multitasking-Frage sollte daher lauten: Sind Menschen gut darin, zwischen kognitiv anspruchsvollen Aufgaben hin- und herzuwechseln? Die Antwort: Die allermeisten von uns sind überhaupt nicht gut darin. Wer es trotzdem macht, muss normalerweise einige Nachteile hinnehmen.
5| Eine Studie schätzt die globalen ökonomischen Kosten von Multitasking im Arbeitsalltag auf 450 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Im Schnitt sind Organisationen, in denen Multitasking eine große Rolle spielt, demnach 27,5% weniger produktiv, als sie sein könnten. Q2
6| Warum ist das so? Die Forschung hat eine ganze Reihe von Problemen im Zusammenhang mit Task Switching identifiziert. Zentral: Jedes Mal, wenn Sie Ihre aktuelle Tätigkeit unterbrechen (z.B. wenn das Telefon klingelt), entsteht kognitiver Aufwand. Das kostet jedes Mal Zeit.
7| Viele Studien weisen nach, dass Wechseln zwischen Aufgaben länger dauert als zwei Aufgaben desselben Typs zu machen. Sekundenbruchteile, die sich zu einem Produktivitätsverlust von bis zu 40% aufhäufen (z.B. Q3). Im Bild ein kleiner Selbsttest, der das sehr eindrücklich zeigt.
8| Je nach Kontext können weitere negative Effekte dazukommen: Fehlerquoten und Stress steigen; die Fähigkeit, relevante von irrelevanten Informationen zu unterscheiden, nimmt ab; Ergebnisqualität und Gedächtnisleistung gehen zurück; die Kreativität leidet. (Teil-)Überblick: Q4.
9| Übung kann diese Effekte mindern. Und ca. 2,5% der Menschen schaffen tatsächlich Multitasking: die "Supertasker". Leider ergibt eine Studie, dass wir unsere Fähigkeiten selbst nur sehr schlecht einschätzen können. Wir halten uns für viel effektiver, als wir wirklich sind. Q5
10| Fazit: Multitasking sollten wir privat und beruflich besser vermeiden. Wenn Sie Einfluss auf Ihr Arbeitsumfeld nehmen können, persönlich oder für Ihr Team, spricht vieles dafür. In Q6 finden Sie einen Ratgeber des Bundesamts für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin als Einstieg.
11| PS: So viele schlechte Nachrichten. Stimmt denn wenigstens das schöne alte Vorurteil, dass Frauen bessere Multitaskerinnen sind als Männer?
Nein. Sorry. Q7

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22 Sep
"Ego-Depletion" gehört zu den Erkenntnissen aus der Psychologie, die es in zahllose Ratgeber und Brigitte-Artikel geschafft haben. Die Idee: Willenskraft ist wie ein Muskel, der durch häufige Anwendung müde wird. Was uns die Idee eigentlich lehrt: eine gesunde Portion Skepsis |1
2| Seit einem Experiment in den 1990ern mit frisch gebackenen Keksen (Bild), haben hunderte von Studien Hinweise gesammelt, dass Selbstkontrolle eine endliche Ressource ist: Wer sich zum Keksverzicht zwingt, hat danach weniger Disziplin für andere Dinge übrig. Überblick in Q1.
3| 2010 befand eine Meta-Analyse (n=198): Der Effekt ist real, die Belege robust. 2014 fand eine andere Meta-Analyse (n=100): Der Effekt ist quasi = 0. 2016 scheiterten gleich 24 Gruppen an der Replizierung: nur 2 fanden überhaupt einen Effekt, 1 sogar das Gegenteil. Q2, Q3, Q4
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19 Sep
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17 Sep
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2| 2,5% der Leute, rund 2 Millionen Menschen in Deutschland, kommen mit einer solchen Gesichtserkennungsschwäche (kongenitale Prosopagnosie) zur Welt, in meinem Fall zum Glück recht milde ausgeprägt. Das ist knifflig genug, aber immerhin erkenne ich mich noch selbst im Spiegel.
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3| Und falls Sie sich jetzt fragen, woher man wohl Informationen zum Body Mass Index von Spitzenpolitikern der Exekutive bekommt: Der Autor greift auf einen Algorithmus zurück, der den BMI (offenbar) anhand von Fotos schätzen kann.
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