Thread by @pavel23

Auf Deutschland gemünzt könnte man sagen, dass AfD und Querdenker mehr Nazis und Faschisten ein vorzeitiges Ableben beschert haben als irgendwer sonst seit Ende des zweiten Weltkrieg.

https://twitter.com/llsethj/status/1470482889548734464

Das ist aber nicht meine primäre Sicht (und sicher nicht die allgemeine Sicht) auf die Dinge. Eine Ideologie, die ihre Anhänger vor Gefahren schützen will, die klein sind, indem sie sie größeren Gefahren aussetzt, ist schlecht für ihre Anhänger. Toxisch, wenn man so will.

Ich finde es keinen Anlass zur Freude, auch nicht zur Schadenfreude, wenn Leute von toxischen Ideen befallen werden, die ihnen und ihrer Umgebung Schaden zufügen. Ich war die meiste Zeit meines Lebens ein Gegner von Zensur oder „verbotenen Ideen“, in der Annahme, dass die…

…meisten Menschen hinreichend gebildet und aufgeklärt sind, dass sie mit jeder Information konfrontiert werden können, ohne Schaden zu nehmen, wir heutzutage also weitgehend immun gegenüber Informationsangriffen auf unseren Verstand sind.

Das halte ich aus heutiger Sicht für eine überhebliche Fehleinschätzung. Nach allem, was ich in den letzten Jahren gelernt habe, gibt es jede Menge „Schadmeme“, die ähnlich wie ein Virus unser Denken befallen können, selbst oder gerade wenn wir glauben, dagegen gefeit zu sein.

Zum Schutz dagegen gibt es, wie in der Corona-Pandemie auch, zwei Arten von Vorgehensweisen: Das eine ist Immunisierung durch weniger toxische Anti-Meme, und die andere ist, das Übertragen von Schadmemen zu verhindern, indem man zensiert und ihre Publikation unterdrückt.

Das steht aber im Widerspruch zu den Grundwerten einer offenen Gesellschaft, und wir wissen, dass eine offene Gesellschaft, in der Menschen intrinsisch motiviert und weitgehend selbstbestimmt leben können, eine innovativere, produktivere und leistungsfähigere Gesellschaft ist.

Nun ist nicht alles nur schwarz oder weiß, und speziell in Deutschland gibt es eine Reihe von Dingen, die bei Strafandrohung nicht verbreitet werden dürfen, und Symbole, die nicht gezeigt werden dürfen.

Die Frage oder das Dilemma ist, ob man jetzt wegen einer Minderheit, die durch toxische Meme mental gefährdet ist, mit Mitteln des Strafrechts in den öffentlichen Diskurs eingreift und Gefahr läuft, dass sich mentale Seuchen im Verborgenen ausbreiten.

Vielleicht es aber gar keine Minderheit, die gefährdet ist, sondern vielleicht laufen wir alle Gefahr, uns mit irgendwelchen Memen anzustecken, die hochgradig schädlich für unsere mentale und physische Gesundheit sind.

Moderne Verhaltensforschung zeichnet ein frappierendes Bild davon, wie unser Verhalten und unsere Entscheidungen durch Faktoren beeinflusst werden, die wir Null auf dem Schirm haben, und dass wir uns Manipulationen oft selbst dann nicht entziehen können, wenn wir um sie wissen.

So haben etwa Hunger, Durst, Kälte, Hitze, Licht, Dunkelheit und insbesondere Gerüche gewaltigen Einfluss auf unsere Wahrnehmung, unsere Aufmerksamkeit, unser Denken und unser Handeln.

Ein wichtiger Teil von Erziehung und Kultur ist, dass wir diese natürlichen Dränge, Impulse und Emotionen bewusst kontrollieren lernen, und wir sind dazu prinzipiell auch in der Lage, aber die Forschung zeigt, dass wir allgemein überschätzen, welche Kontrolle wir über uns haben.

Eines der für mich erschütterndsten Forschungsergebnisse ist, dass Richter umso härter bestrafen, je länger ihre letzte Mahlzeit zurück liegt. Wir haben aus diesem Grund einen Instanzenweg, so dass man vielleicht in zweiter Instanz auf weniger hungrige Richter trifft.

Seit langem bekannt, aber ebenfalls unterschätzt wird, wie stark Gerüche uns beeinflussen. Viele Läden wissen das, und Geruchsdesign ist mir vor dreißig Jahren schon in Projekten für die Autoindustrie und den Handel begegnet, in die ich involviert war.

Die effektivste Art, andere Menschen zu beeinflussen, ist, was wir Charisma nennen. Früher dachte ich, das wäre eine Eigenschaft, die weitgehend angeboren ist, aber heute bin ich davon überzeugt, dass es zum großen Teil erlernt und trainierbar ist.

Einfluss auf das Denken und Handeln anderer Menschen nehmen zu können ist die Definition von Macht, und ich kann nur jedem empfehlen, sich über die gängigen Quellen von Macht bewusst zu sein oder zu informieren. Sollte eigentlich Teil des Schulunterrichts sein, ist fast trivial.

Das Internet ist auch voll von Ratgebern für praktisch jede Lebenssituation: Partnerschaft, Familie, Job, Dating, Kindererziehung, Ernährung, Gesundheit, Sport, Politik, Ethik, Lebensanschauung und Spiritualität. Man kann sich heutzutage quasi …

…seine eigene Religion zusammenbauen nach dem Mix and Match Prinzip, und man kann heutzutage direkt von den Weltbesten auf ihrem Gebiet lernen, aber auch von Lebenserfahrungen einer Vielzahl von Amateuren und normalen Leuten profitieren, die nun öffentlich hörbar sind.

Diese „geistige Promiskuität“ birgt natürlich Gefahren, etwa die Verbreitung toxischer Meme oder Fehlinformationen, aber auch ein Riesenpotential, sich mentale Werkzeuge anzueignen oder von Leuten aus aller Welt zu lernen, wie man seine Bedürfnisse besser befriedigen kann.

Die Pandemie hat uns alle verändert. Soziale Kontakte beeinflussen unsere Gehirnchemie, und ein großer Teil davon sind Gerüche und Berührungen. Niemand weiß genau, was das mit uns macht, aber man kann annehmen, dass es zum Teil ähnliche Folgen hat wie Isolationshaft, …

…und auch, wenn man eine Haftsituation viel krasser ist als häusliche Isolation oder „Kontaktreduktion“, dürfte diese kaum folgenlos bleiben, und eine Deprivation von Gerüchen, Berührungen, sozialen Interaktionen und Gruppenerlebnissen kann sich nicht positiv auf unsere…

…geistige und körperliche Gesundheit auswirken und dürfte eher unsere Fähigkeiten reduzieren, mit anderen Menschen und der Welt klar zu kommen. Regelmässiger Kontakt mit anderen ist auch wichtig, um unser Selbst zusammen und in der Spur zu halten,…

…von Abwegen auf den Boden der Tatsachen zurück geholt zu werden, und, ganz banal gesagt, zu verhindern, dass wir verlottern. Das alles gibt mir schon zu denken, und die Bedenken derjenigen, die sich Lockdowns und Maßnahmen widersetzen, nicht einfach so vom Tisch zu wischen.

Man kann aber nicht gleichzeitig Impfungen, Lockdowns und Masken ablehnen und so tun, als wären die 5,3 Mio. Corona-Toten ein Hirngespinst und die Probleme in den Krankenhäuser leugnen. Wer das tut, dessen Bedenken kann man nur als Zeichen psychischer Störung ernst nehmen.