„Man kann Leute nicht mittels Vernunft von einer Haltung abbringen, zu der sie nicht durch Vernunft gebracht wurden.“

Diese hochaktuelle Weisheit ist in den ketzten Jahrhunderten immer wieder von großen Denkern kolportiert worden.
quoteinvestigator.com/2015/07/10/rea…
Sie ist heutzutage aber keine Vermutung mehr, sondern neurowissenschaftliche Erkenntnis. Unser Gehirn funktioniert so. Ohne Aktivierung des limbisches System, das für Gefühle zuständig ist, ändert sich nichts, was sich bei seiner Aktivierung gebildet hat.
Mit anderen Worten: Die frustrierende Erfahrung, dass Leute manchmal auf eigentlich zwingende rationale Argumente überhaupt nicht reagieren, ist völlig normal, und es hat nichts mit Dummheit zu tun.
Wirklich rational entscheiden können wir nur, wenn uns etwas egal ist, und das ist eher selten der Fall. Wenn nicht, sind wir allen möglichen Neigungen, Vorlieben, Vorurteilen und kognitiven Verzerrungen ausgesetzt, denen wir uns nicht bewusst sind.
So haben wir eine blitzschnell arbeitende Freund-Feind Erkennung, die nach dem „Wir oder Die“ Prinzip arbeitet und ein Gesicht in unter 100ms in eine Kategorie packt. Leute, die anders aussehen als die, mit denen man aufgewachsen ist, werden erst mal unter „die“ einsortiert…
…und als potentiell gefährlich eingestuft und rufen Angst hervor. In unserer Gesellschaft stufen rund 2/3 der Leute Menschen anderer Hautfarbe spontan als Gefahr ein. Das Prinzip, Fremde als Gefahr einzustufen, ist genetisch, aber wer „fremd“ ist, ist zum großen Teil erlernt.
Man kann solche Prägungen wohl ändern, aber man braucht positive emotionale Erlebnisse mit Fremden dafür, uns Sex soll dabei besonders gut funktionieren.
Das „wir-oder-die-Prinzip“ bzw. unsere „instinkive“ Freund-Feind-Erkennung ist Ziel vielfältiger politischer Manipulationsversuche und liegt auch Identitätspolitik zugrunde, die ich nicht mag, weil sie für mich an „niedere Instinkte“ appelliert und….
…trotz wohlmeinender Intentionen oft ihr Gegenteil erreicht. Da man keine Politik für jeden Einzelnen machen kann, braucht die Politik Gruppen, deren Interessen sie als homogen betrachtet, was aber in vielen Fällen nicht der Lebensrealität entspricht, insbesondere dann,…
…wenn es um große Gruppen wie Männer und Frauen geht. Ja, es gibt sicher gemeinsame Erfahrungen und Probleme gerade von marginalisierten Gruppen, aber wohin das führt, wenn man das zur Maxime von Politik erhebt, kann man an der „neuen Rechten“ sehen, und mittlerweile ist…
…Identitätspolitik zu einer Opferolympiade ausgeartet und hat etwa eine „Mannosphäre“ mit Gruppen wie Incels oder MGTOW entstehen lassen, und Impfgegner etwa sehen sich auch oft als marginalisierte Opfergruppe.
Gruppenidentitäten basieren nicht auf Rationalität, sondern auf vermeintlich ähnlichen Lebenserfahrungen, die aber primär emotional sind, so dass wir uns nicht wundern müssen, wenn eine rationale Debatte zwischen „uns“ und „den anderen“ unmöglich ist,…
…wenn wir Gruppenidentitäten annehmen und auch noch die eigene Identität der Gruppenidentität anpassen. „Ultrahocherhitzt und homogenisiert“ charakterisiert die Meinung identitätsbasierter politische Gruppen recht gut, denke ich.
Wie kommen wir da raus? Wie kommen wir zu einem Zustand von mehr „Coolness“, in dem rationale Gedanken höheres Gewicht bekommen können und mehr rationale Debatten möglich sind? Nun, offenbar nicht mit rationalen Debatten.
Wahrscheinlich sind wir mehr oder weniger alle therapiebedürftig, in dem Sinne, dass wir voller Muster und Vorurteile und Überzeugungen sind, oft angstgeprägt, die wir nicht ohne konträre emotionale Erlebnisse loswerden, die wir meist ohne gezielte Hilfe nicht erlangen können.
Entgegen verbreiteter Überzeugung trägt Empathie eher zum Problem bei, als das es Probleme löst, denn sie macht Leid und Schmerz von anderen zu unserem eigenen Leid und Schmerz, und Schmerz macht aggressiv, und Leid fördert auch nicht unsere Problemlösungskompetenz.
Der Effekt von Empathie, dass wir uns mit den Leidendenden identifizieren, fördert aber nicht unbedingt die Bereitschaft, auch aktiv etwas für die Leidenden zu tun, so die Wissenschaft. Dass wir mit leiden genügt wohl oft, um unser Gewissen zu beruhigen.
Das größere Problem aber ist, dass unser Mitleid und unsere Empathie auch auf Vorurteilen beruhen und unser Mitleid nicht rational oder „gerecht“ verteilen, sondern etwa nach Nähe und Gleichartigkeit mit uns, ähnlich wie bei der Freund-Feind-Erkennung.
Daher ist auch Empathie kein guter Ratgeber für politische Entscheidungen. Die Wahrheit oder das Optimum liegt wohl in der Mitte, so dass ich Spock jetzt auch nicht als idealen politischen Akteur sehen würde, jedenfalls nicht den Spock aus TOS.
Der Spock der Kelvin-Timeline, und im übrigen auch der Kirk, verhalten sich dagegen wie Teenager mit mangelnder Impulskontrolle. Überhaupt scheinen mir in neuerer Zeit Filmcharaktere wenig Mühe zu geben, sich zu kontrollieren. Cool ist out.
Filme wirken sich auch prägend auf unsere Emotionen aus; sie können uns ähnlich verändern wie persönliche Lebenserfahrungen, Vorurteile verankern und Ängste wecken, aber auch all dem entgegenwirken.
Es kann einem aber Angst und Bange werden, wenn man sich überlegt, wie viel Bildschirmgewalt wir etwa ausgesetzt sind und welche Emotionen uns medial als angemessen oder normal in bestimmten Situationen vermittelt werden. Ich glaube nicht,…
…dass sich alle Filmemacher darüber bewusst sind, wie stark sie uns emotional „programmieren“ können. Wir haben dagegen auch nur unzulängliche Filter und sind uns der Einflüsse oft nicht bewusst, und selbst wenn, nützt es oft nichts.
Nimmt man hinzu, dass unsere Haltung zu großen Fragen und wichtigen Ereignissen meist ausschließlich medial vermittelt sind, haben wir ein Problem, wenn Unterhaltung uns politisch mehr prägt als kühle Berichterstattung, und Politik nur noch an Emotionen appellieren kann.
Ich bin dennoch verhalten optimistisch, denn unser Wissen darüber, wie Menschen funktionieren, wächst exponentiell, und wir werden immer besser in der Lage sein, die Prozesse zu kontrollieren, die in uns und um uns ablaufen. Im Moment sieht aber vieles nach Kontrollverlust aus.

• • •

Missing some Tweet in this thread? You can try to force a refresh
 

Keep Current with Pavel Mayer

Pavel Mayer Profile picture

Stay in touch and get notified when new unrolls are available from this author!

Read all threads

This Thread may be Removed Anytime!

PDF

Twitter may remove this content at anytime! Save it as PDF for later use!

Try unrolling a thread yourself!

how to unroll video
  1. Follow @ThreadReaderApp to mention us!

  2. From a Twitter thread mention us with a keyword "unroll"
@threadreaderapp unroll

Practice here first or read more on our help page!

More from @pavel23

14 Dec
Auf Deutschland gemünzt könnte man sagen, dass AfD und Querdenker mehr Nazis und Faschisten ein vorzeitiges Ableben beschert haben als irgendwer sonst seit Ende des zweiten Weltkrieg.
Das ist aber nicht meine primäre Sicht (und sicher nicht die allgemeine Sicht) auf die Dinge. Eine Ideologie, die ihre Anhänger vor Gefahren schützen will, die klein sind, indem sie sie größeren Gefahren aussetzt, ist schlecht für ihre Anhänger. Toxisch, wenn man so will.
Ich finde es keinen Anlass zur Freude, auch nicht zur Schadenfreude, wenn Leute von toxischen Ideen befallen werden, die ihnen und ihrer Umgebung Schaden zufügen. Ich war die meiste Zeit meines Lebens ein Gegner von Zensur oder „verbotenen Ideen“, in der Annahme, dass die…
Read 25 tweets
13 Dec
Woher kommen Algorithmen? Und wie kommt es, dass mein Gehirn Algorithmen produzieren kann, aber mein Computer Programme braucht, die irgend ein Mensch geschrieben hat? Wo doch mein Gehirn auch nur ein Computer ist, wie ich glaube.
Ja, es gibt genetische Programmierung und maschinelles Lernen, die beide automatisch Algorithmen erzeugen, und selbst ein Schachprogramm erzeugt Algorithmen, nämlich eine Abfolge von Zügen, die möglichst zum Sieg führen sollen, mittels "backtracking".
Und es gibt jede Menge "Codegeneratoren", die Programmstücke aus Datenspezifikationen erzeugen, meist zur Ein- oder Ausgabe von Daten oder deren Übertragung, oder Programmcode aus einer Repräsentation in eine andere überführen, etwa bei Compilern.
Read 25 tweets
12 Dec
If you want to know something about the nature of truth and the evil a state is capable of, watch this 3 hour interview with most tortured person in Guantamo Bay, and then read the wiki page about him. You won't regret it.
The end may sound uplifting, and Slahi made peace with his torturers and is even a close friends to one of them, both godfathers to each other's kids. You should keep in mind though they broke him and and it might a case of traumatic bonding, like with the Stockholm syndrome.
At one point one of his American captors told him: It does not matter whether you are innocent or not. And after what has already been done to you by us, you can not be innocent. And in that mindset they tortured him until he confessed to literally everything they suggested.
Read 19 tweets
11 Dec
Das Internet weiß alles. Und jede Idee, die man hat, hatte schon mal jemand vorher. Und das ist eigentlich ziemlich cool, denn man kann so Sackgassen vermeiden oder Wissensschätze heben, die einen voran bringen. Aber wie sucht man nach einer Idee? Beispiel einer Schatzsuche.
Seit einiger Zeit beschäftigt mich die Frage, warum Meinungsfronten so verhärtet und Debatten so aggressiv verlaufen, und irgendwie zeichnete sich so ein Bild in meinem Kopf von einem Gebirge mit Pfaden, und die Wege verlaufen in den Tälern, und die Gebirge zu überwinden...
...kostet Energie und ist gefährlich, weil man allein ist. Manchmal spaltet sich ein Tal auf, und die einen laufen rechts und die anderen links, und treffen sich vielleicht nie wieder. Und früher war das Land übersichtlicher, die Täler breiter und die Berge flacher.
Read 17 tweets
11 Dec
Der "schlechteste Film aller Zeiten" ist ein Paradoxon. Eigentlich dürfte sich niemand an ihn erinnern können, weil wenn man sich erinnern kann, hatte der Film mindestens die Qualität, unvergessen zu sein. Und man sich ihn angesehen hat. Er kann damit nicht der #SchleFaZ sein.
Was macht einen Film schlecht? Für mich sind es Cliches, Inkonsistenzen oder unabsichtliche Absurditäten im Plot, unglaubwürdige Charaktere, Übermaß an 1-in-a-billion-Escapes, und wenn der Film verdummt. Kann aber auch einen Film genießen, der gegen all diese Regeln verstößt.
Damit ich mich überhaupt erinnern oder aufregen kann, muss es aber besondere Gründe geben: Ein Trailer, Werbung, ein Riesenbudget, ein interessantes Franchise, oder alle reden darüber und man will mitreden oder es verstehen.
Read 4 tweets
9 Dec
"Alle zeigen leichte Symptome, erkranken aber nicht schwer". tagesspiegel.de/wissen/erste-b…
Hätte ich bei einer Gruppe von dreifach geimpften "jungen Deutschen" auch nicht anders erwartet. Haben diese Leute erwartet, dass sie anstecken würden? Wie haben sie sich angesteckt? Haben sie sich allein oder zu sehr auf ihre Impfung verlassen?
Das sind die Fragen und der Hintergrund, warum ich mich in diesen beiden Threads für mich vielleicht ungewöhlich scharf zum Thema Omikron und Impfung geäußert haben. Was glaubt ihr wird passieren, wenn Omikron trotz Booster Deutschland überrollt?
Read 25 tweets

Did Thread Reader help you today?

Support us! We are indie developers!


This site is made by just two indie developers on a laptop doing marketing, support and development! Read more about the story.

Become a Premium Member ($3/month or $30/year) and get exclusive features!

Become Premium

Too expensive? Make a small donation by buying us coffee ($5) or help with server cost ($10)

Donate via Paypal

Or Donate anonymously using crypto!

Ethereum

0xfe58350B80634f60Fa6Dc149a72b4DFbc17D341E copy

Bitcoin

3ATGMxNzCUFzxpMCHL5sWSt4DVtS8UqXpi copy

Thank you for your support!

Follow Us on Twitter!

:(