Im zweiten Thread heute möchte ich ein wenig über ein strukturelles Problem in Bezug auf #Autismus reden.
Es betrifft die Wissenschaft, Lehre und das Bild von Autismus das auch unter Fachkräften verbreitet wird.
Ich fange mit der Wissenschaft an ohne diese verteufeln zu 1/
wollen. Dennoch habe ich, was die Wissenschaft bei Autismus betrifft, große Probleme. So groß wie ein Elfenbeinturm.
Spätestens seit Leo Kanner und Hans Asperger spielt auch das was wir heute als Autismus bezeichnen eine größere Rolle in Forschung und Wissenschaft. 2/
Das die Forschung, gerade wenn es um die Ursachen von Autismus geht, viele Theorien aufgestellt hat und Jahre später wieder verwerfen musste ist das eine. Das man dafür seit Langem einen autistischen Zoo (oder was was man für Autismus bei Tieren hält) für Erkenntnisse benutzt 3/
gehört schon wie selbstverständlich dazu.
Mir geht es jetzt aber um einen anderen Punkt.
Wissen das zwar längst als überholt gilt und trotzdem per Zitierung stetig repliziert und damit als vermeintlich "aktuell" verbreitet wird.
Die Annahme Autist:innen hätten keine Emotionen 4/
oder seien nicht in der Lage Emotionen zu empfinden bzw hätten ein massives Defizit im emotionalen Bereich hält sich seit Jahrzehnten.
Und so findet man Aussagen derer Art auch noch in Lehrbüchern der letzten 2 Jahre.
Die betreffenden Stellen zitieren ein Buch aus 2016, das 5/
wiederum ein Buch von 2009 welches diese Information aus einem Buch zur Jahrtausendwende entnommen hat.
So landet man dann bei den haarsträubenden Annahmen von 1980 und früher die damals vielleicht Stand der Wissenschaft waren aber heute längst überholt sind.
Und wie das so 6/
mit so einprägsamen weil krassen "Fakten" ist: Das bleibt in den Köpfen der Lernenden hängen.
Ähnlich gelagert ist das Generationenproblem bei den Lehrenden. Die haben in grauer Vorzeit was gelernt und geben das so weiter und fertig. Die Ausbilder werden sich damals schon 7/
nicht geirrt haben. Und was machen die Lernenden? Die treiben den Kreislauf weiter. Hinterfragen und den aus dem Elfenbeinturm predigenden Expert:innen widersprechen tut kaum jemand. Man vertraut darauf das die Lehre schon weiß was sie lehrt.
Besonders gruselig wird es immer 8/
dann je weiter wir von der Kerndisziplin entfernt sind. Wobei auch dort die Qualität und Quantität der Autismusanteile stark zu wünschen übrig lassen kann.
Je weiter wir vom Kern weg sind umso eher haben wir es mit Lehrenden zu tun die zwar was über Autismus erzählen können 9/
oder gar Arbeiten dazu korrigieren aber deren Fachkompetenz über Autismus oft sekundär oder gar tertiär erworben und mehr oder weniger gering ist.
In der Schule, ja auch hier schreibt man Facharbeiten, reduziert sich das Wissen dann oft auf ein Niveau von Rain Man und 10/
Ella Schön. Zu diesem Problem gesellt sich dann ein gesellschaftliches Phänomen. Der Lehrende steht über dem Lernenden. Wenn dann Lernende Ahnung vom Thema haben und das was sie schreiben nicht dem entspricht was gelehrt wurde: Quittung.
Einem Hochschulkorrektor der es als 11/
falsch ansieht das TEACCH auch für "hochfunktionalen" Autist:innen hilfreich sein kann und deshalb die Wertung herabsetzt gehört meiner Meinung nach das Recht entzogen Autismusarbeiten zu bewerten. (reales Beispiel).
Ihr seht das Problem? Es ist ein gegen Neuerungen sehr 12/
resistentes System das sich immer wieder selbst repliziert.
Übertragen wir nun diese Problematik ein wenig auf die berufliche Weiterbildung.
Hier haben wir dann Strukturen die ebenfalls mindestens 50 Jahre gewachsen sind. Zum einen die Gruppe von Menschen die seit d. 1970ern 13/
beim Thema engagiert und aktiv sind: Die Angehörigen(Vertretungen).
Dort wird, weil man geschichtlich bedingt eben für die Kinder sprechen musste, immer noch die Haltung hoch gehalten das man besser weiß was für autistische Kinder gut ist und was diese brauchen als die Kinder 14/
selbst. Auch wenn diese natürlich längst erwachsen geworden sind. Mit der Folge das immer noch aktive und aufklärend arbeitende Autist:innen nicht ernst genommen werden.
Die andere Gruppe ist die der Wohlfahrt. Auch hier ist es leider so, dass es oft selbsterhaltende Systeme 15/
sind die in sich geschlossen agieren. Auch hier ist zwischen Fachkraft und Autist:innen ein mehr oder weniger großer Hirachieunterschied zu spüren der mit aller Kraft verteidigt wird.
Sowohl der große Angehörigenverband wie auch die großen Träger des Wohlfahrtsystems sind in 16/
der beruflichen Weiterbildung verankert und tätig.
Und damit obliegt es förmlich der Gnade dieser Stellen ob ein autistischer Mensch oder eine sekundär gebildete Fachkraft über Autismus referiert. Das gefährliche dabei ist: Wer selbst nur sekundärwissen besitzt erwartet auch 17/
nur genau dieses Wissen. Neue Strömungen, die Innensicht und der damit verbundene Perspektivenwechsel sind nicht gefragt weil man diese nicht kennt. Und so kommt es das jemand mit 20 Jahren Erfahrung in einem Beruf Wissen weitergibt das auch mindestens 20 Jahre alt ist. 18/
Immer wieder sich replizierende Informationen die aus der Zeit rausgefallen sind. Und Lernende die das wiederum als aktuell bewerten weil sie es 2021 gelernt haben. Wenn man nicht viel von Autismus weiß kann man natürlich auch nicht wissen ob einem Blödsinn erzählt wird 19/
wenn dieser logisch und nachvollziehbar klingt.
Das dies unter Umständen dazu führt das Probleme mit Autist:innen eskalieren und Situationen unlösbar werden merkt man natürlich erst wenn der autistische Mensch in der Psychiatrie liegt. Und dann ist es nicht mehr die eigene 20/
Verantwortung und der persönliche Arbeitsbereich.
Das diese Macht darüber ob eine bevorzugte Fachkraft oder ein evtl für einen noch unbekannter "Betroffener" lehrt und informiert nicht so leicht aufzubrechen ist könnt ihr euch sicher vorstellen. Es ist auch immer noch 21/
Gang und Gäbe das Betroffene ausschließlich mit einer Fachkraft informieren. Wie die Innensicht dann innerhalb des Kurses hirachisch gesehen wird ist nachvollziehbar. Autist:innen verkommen zum Alibi damit man nicht zu 100 % über uns redet ohne uns zu fragen.
Das ist jetzt 22/
nur eine Facette der vielen Dinge die bei Autismus in Sachen Erkenntnisse, Informationen und Lehre schief laufen. Und, wie ich immer wieder merke, tatsächlich für viele Außenstehende ein nicht nachvollziehbarer Zustand. Weil sich keiner vorstellen kann das die Realität so 23/
aussieht. Und das wiederum macht mich verdrossen und traurig. Viele gehen davon aus dass alles schon ok sei und es nicht stimmen kann das bei Autismus soviel schief läuft. Weil es eben Sichtweisen und Menschenbilder sind die nach den 70ern und früher schreien und die man 24/
längst für veraltet, erledigt und überholt sieht. Es ist schlichtweg nicht vorstellbar.
Wir haben noch so viel zu tun. Und jedes Mal wenn wir informieren, aufklären und korrigieren bröckelt ein winziges Stückchen der Schutzwand der bestehenden Strukturen. Während fleißig 25/
weiter gemauert, blockiert, diskreditiert und unterdrückt wird.
Ich muss aufpassen nicht zu resignieren. Und viele andere auch.
26/26
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Ergänzend zu dem Thread gestern heute noch ein paar Worte zu der Situation autistischer Aktivist:innen und dem Bereich Selbstvertretung.
Kaum einer kann sich wohl vorstellen wie es bei uns aussieht. Wie auch? Man schaut zu den Aktivist:innen anderer 1/
Behinderungen, sieht deren Erfolge die hart erkämpft sind und schließt daraus auf #Autismus zurück.
Das klappt nicht. Leider. Ich wünschte wir wären auf dem Stand der anderen Aktivist:innen und hätten deren Basis.
Während z. B. in den 70er Jahren sich auch in Deutschland die 2/
sogenannte "Krüppelbewegung" formierte und die Grundsteine für eine Emanzipation behinderter Menschen legte tat sich bei uns nur eines: Eltern gründeten Verbände. Zeitgleich oft mit dem Anspruch das autistische Kinder nicht sprechen bzw nicht für sich sprechen könnten. Ein 3/
Ein Auslöser für diesen Thread war eine Reaktion auf meine aktuelle Kolumne in der @av_magazin.
Ich würde persönlich darauf angesprochen warum wir denn zulassen das man über uns und nicht mit uns redet. Das Nichtautisten #Autismus erklären. Das man uns nicht einbezieht. 1/
Warum wir uns unsichtbar fühlen und warum wir nicht laut werden.
Da wurde mir klar: Das war kein Vorwurf "Ihr müsst nur etwas tun" sondern eine "Unwissenheit" über unsere Lage und Realität.
Viele können sich tatsächlich nicht vorstellen das man 2022 so mit Autist:innen umgeht. 2/
Das der Einfluss historisch gewachsener Strukturen so groß ist und eine "Augenhöhe" darin besteht das wir stumm zum Elfenbeinturm hochschauen.
Das überhaupt Strukturen existieren die ein Interesse daran haben Autist:innen möglichst klein zu halten.
Was für uns Alltag und 3/
Vor einer Woche lief Abends in der ARD der Film "Oskar, das Schlitzohr und Fanny Supergirl". Ein Film in dem es um Autismus geht.
Ich gebe zu: Ich habe nicht viel erwartet. Zuviel wird mit der Begründung "Das ist Fiktion! " versemmelt. Siehe #EllaSchön. 1/ ardmediathek.de/video/filme-im…
Dementsprechend ging ich skeptisch und eigentlich mit wenig Lust an den Film heran. Nachfolgend ein paar Situationen und Aussagen aus dem Film. Wie er gesamt bei mir angekommen ist dann am Ende.
Opa Oskar ist in Haft, arbeitet auf eine vorzeitige Entlassung wegen guter Führung 2/
hin und braucht eine Meldeadresse. Kurz gefasst: Das Schlitzohr quartiert sich bei seiner Tochter im Bauwagen auf dem Grundstück ein.
Dieser wurde von den Eltern zu einem Rückzugsort für die autistische Fanny eingerichtet.
Natürlich trifft Fanny auf Oskar und damit beginnt 3/
Deutschland. Wir schreiben das Jahr 2021.
Im Auftrag vom @ZDF produziert @DreamtoolEnt eine Filmreihe über eine Asperger Autistin.
In der neusten ausgestrahlten Folge von #EllaSchön wurde das sog. Stimming wie ein roter Faden durch den ganzen Film thematisiert.
Hierbei kam es 1/x
sachlich und dramaturgisch zu groben Fehlern.
Stimming, also die Selbststimmulation von Wahrnehmungskanälen, dient der Wahrnehmungseinschränkung, Beruhigung und dem Stressabbau. Dies ist eine unbewusst(!) ablaufende Körperreaktion die jeder Mensch hat.
Stimming kann auch 2/x
bewusst, dass ich zum Beispiel präventiv gegen Überlastungen, ausgeführt werden und hat dann ähnliche Effekte. Bei Autist:innen ist es häufig zu beobachten da wir aufgrund der verstärkten Wahrnehmung sehr viel Stress und Belastung haben.
Ein Stimming das jeder schon beobachten 3/
#EllaSchön ist ein Paradebeispiel dafür wie Autist:innen #unsichtbar gehalten werden.
Man zeigt ein komplett falsches Bild (bevorzugt defizitär oder leidend) vom Leben als Autist:in.
Erweckt mit Fachvokabular den Eindruck daß das die Realität sei.
Und schon sind wir #Unsichtbar.
Die ganze Zeit die wir dann entweder dafür aufwenden müssen sowas wie #EllaSchön richtig zu stellen oder die Kraft mit den dort gezeigten Fehlinformationen leben zu müssen fehlt.
Sie fehlt um vorwärts zu kommen. An Sichtbarkeit zu arbeiten.
Oder einfach nur um in Frieden zu leben
Ich ahne jetzt schon wie kraftraubend es für Autist:innen und Angehörige sein wird wenn sie Stimming erklären möchten. Und dann hören "Stimming? Ihr Kind ist nicht deswegen in Behandlung oder in der Geschlossenen?"
Das Fachwort Stimming wird von einer Hilfe zum Stigma.