Es braucht eine offene und ergebnisoffene Debatte zur immerwährenden Neutralität 🇦🇹 - keine Beschwörungen, Allgemeinplätze oder Schnellschüsse!
Ein etwas längerer 🧵 dazu.
Beginnen wir zunächst mit dem Gegenstand - der immerwährenden Neutralität. "Neutralität" bezeichnet die Unparteilichkeit eines Staates in einer Situation der gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen anderen Staaten.
Neutral sein bedeutet also, keine Partei in einem gewaltsamen Konflikt zu unterstützen, sei es direkt (Teilnahme an Kampfhandlungen) oder indirekt durch Hilfsleistungen (z.B. Truppenstationierungen oder Waffenlieferungen).
Völkerrechtlich verankert ist die Neutralität in den Haager Abkommen von 1907 - diese legen die Rechte & Pflichten von Neutrale fest; u.a. die Verhinderungspflicht: neutrale Staaten müssen Verletzungen d. Neutralität mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln entgegentreten.
Die Haager Abkommen an sich schreiben jedoch keine Pflicht zur Verteidigung der Neutralität mit militärischen Mittel fest, also keine Pflicht zur militärischen Neutralität, wohl aber deren Möglichkeit.
So halten auch d. Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage des Neutralitätsgesetztes (1955. S.3) fest: „die dauernde Neutralität ist [...] *meist* auch eine bewaffnete Neutralität“. Die vorherrschende Völkerrechtsmeinung ist jedoch, ...
dass ein neutraler Staat eine Verteidigungsfähigkeit besitzen muss, um die Glaubwürdigkeit der Neutralität zu gewährleisten. Aber, welche Streitkräfte ein neutraler Staat unterhält, ist eine politische Frage.
Der 🇦🇹 Völkerrechtler Alfred Verdross dazu: „Der dauernd neutrale Staat ist also zwar zu einer effektiven Verteidigung verpflichtet, die Beurteilung darüber, welche Maßnahmen zu diesem Ziele notwendig sind, ist aber innerhalb dieses Rahmens seinem Ermessen überlassen."
Neutralität bedeutet auch nicht zwangsläufig, dass ein neutraler Staat im Fall eines Angriffs auf sich gestellt ist, wie in letzter Zeit oft behauptet. Ist ein neutraler Staat Mitglied der Vereinten Nationen (wie Österreich), so gilt auch für diesen Art 51 der UN-Charta -
das Recht auf individuelle und kollektive (!) Selbstverteidigung. Andere Staaten können (!) dem Neutralen also im Fall einer Aggression zu Hilfe kommen. unric.org/de/charta/#kap…
Immerwährende Neutralität, oder permanente Neutralität, meint schließlich, dass sich ein Staat nicht nur im Anlassfall eines Krieges neutral erklärt (ad hoc/temporäre Neutralität), sondern erklärt, in allen zukünftigen Kriegen Neutralität zu wahren.
Permanent bedeutet aber *nicht* für alle Ewigkeit, sondern grenzt diese Form der Neutralität von der ad hoc/temporären Neutralität ab. Blick auf 🇦🇹: durch einen 2/3 Beschluss im NR könnte die Neutralität beendet werden.
Permanent bedeutet auch nicht unwandelbar. Blick in die 🇨🇭, wo der Bundesrat 1993 festhielt: "Die Neutralität war [...] in der Geschichte unseres Landes nicht ein starres, ein für allemal fixiertes Institut... files.ethz.ch/isn/14853/rp_9…
Vielmehr hat die Schweiz das Instrument der Neutralität immer wieder flexibel den internationalen Notwendigkeiten und den eigenen Interessen angepasst" So auch Österreich ...
Mein Beitrag im Handbuch zur Ö. Außenpolitik @OeAussenpolitik zeichnet nach, wie sich die Neutralität im Laufe der II. Republik gewandelt hat: zu einer differentiellen (im Geltungsbereich zusehends eingeschränkten) & einer de-politisierten Neutralität. zB parlament. Debatten 👇
Nun zur Frage der offenen und ergebnisoffenen Debatte über die Neutralität. Welche Frage sollten wir uns stellen?
1) Wir müssen uns überlegen, welche Rolle unsere Neutralität im europ. Bündnisfall spielen soll - das ist eine politische Frage, der rechtliche Rahmen ist geklärt (Art 23j B-VG). Wie weit würde unsere Solidarität reichen? ris.bka.gv.at/eli/bgbl/1930/…
Also welchen Beitrag würden wir leisten wollen und (in materieller Hinsicht) leisten können oder sollen? Was bedeutet dies für unser Verhältnis zu den anderen EU-Mitgliedstaaten?
2) Wir müssen uns auch überlegen, wie sich der Umstand auswirkt, dass wir im Rahmen der EU militärisch neutral sein *können*, aber jenseits der EU nach wie vor militärisch neutral sein *müssen*.
Wie wirkt sich dies auf unsere Glaubwürdigkeit als neutraler Staat und unser Ansehen aus? In diesem Zusammenhang gälte es die Frage zu klären, wie andere Staaten unsere Neutralität wahrnehmen - die 🇦🇹 Debatte ist völlig von einer Binnensicht dominiert.
3) Wir müssen uns auch die Frage stellen, welchen Mehrwert die Neutralität jenseits der Sicherheit/Verteidigung bringt? Macht sie uns zu einem glaubwürdigen und gefragten Vermittler in Konflikten? Macht sie uns als Sitz internationaler Organisationen attraktiver?
Eine gute Debatte beginnt mit guten Fragen. Das war ein Versuch, einige davon zu formulieren.
Es wurde in den vergangenen Tagen mehrfach davon gesprochen, dass Österreich ein sicherheitspolitischer #Trittbrettfahrer sei. Sehen wir uns dieses Argument einmal an:
Zunächst die rechtliche Dimension:
Art 42/7 des EUV hält fest - "Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, ... ris.bka.gv.at/NormDokument.w…
im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen." Der Beistand muss erfolgen, aber nicht zwingend militärisch sein, wie der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs 2009 festgehalten hat. Siehe dazu Öhlinger 2018, auf S. 628 elibrary.verlagoesterreich.at/article/99.105…
(2/9) Zunächst ist dies nicht das erste Mal, dass Gezieltes Töten ("targeted killing") gegen einen Wissenschaftler in einem Nuklear- oder Raketenprogramm eingesetzt wurde. Tamar Meisels hat hierzu einen Artikel einen Artikel in Law & Philosophy, link.springer.com/article/10.100…