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Mar 14 26 tweets 4 min read
Teil1:Erschreckend, was sich da bei gestern bei #AnneWill abgespielt hat. Unsere Politiker und "Sicherheitsexperten" haben nicht verstanden, dass wir uns im Krieg befinden, und tun so, als könnten wir einen Krieg vermeiden. Sie verstehen Putin nicht, sie verstehen Russland nicht.
Das ist aber auch nicht verwunderlich, denn hier fallen uns rassistische Vorurteile auf Füße, und zwar umgekehrt als üblich. Unsere rassistische Prägung identifiziert sie eher als Verwandte und nicht als Fremde, und ethnisch sind sie auch noch Christen.
Daher glauben Westeuropäer, Russen würden ähnlich denken wie sie, aber tatsächlich ist die russische Kultur und Zivilisation fundamental anders. Das beginnt damit, dass Russen mehrere verschiedene Realitäten konstruieren und managen, während wir meist nur eine können.
Das klingt seltsam, irgendwie nach Schizophrenie, aber tatsächlich handelt es sich um eine überlebenswichtige Kulturtechnik, die auch wichtige Implikationen für Begriffe wie Wahrheit oder Lüge hat. Ein Russe braucht mindestens zwei Realitäten, eine private und eine öffentliche.
Die private Realität ist das, was man zu Hause denkt, und die öffentliche Realität ist das, was man in der Öffentlichkeit denkt. Es ist dabei aber nicht dasselbe wie die Privatsphäre in Abgrenzung zur öffentlichen Sphäre,...
...die es erst seit dem 19. Jh gibt, wo die Privatsphäre einen vor staatlichen Eingriffen und Eingriffen Dritter geschützten Bereich meint. Privatsphäre ist in Russland als Konzept eher fremd, neumodisch und suspekt.
Das Konzept "Privatsphäre" hat nur rudimentär in neuerer Zeit Eingang in die Gesellschaft und Gesetzgebung gefunden, vielleicht vergleichbar mit der Verbreitung und Akzeptanz des Konzepts von "Gender" in Deutschland.
Statt Privatsphäre hat sich in Russland das Konzept von privater und öffentlicher Realität entwickelt, wo je nach Situation in der einen und der anderen Realität völlig verschiedene Aussagen wahr sein können. Deutsche würden das als Lüge oder sich Verstellen bezeichnen und ...
...nur die eine Aussage als wahr erachten, als das, was jemand "wirklich" denkt, aber in Russland können beide Realitäten gleichberechtigt und jeweils in sich konsistent existieren und jeweils handlungswirksam werden, je nachdem, in welcher Realität man sich gerade befindet.
Gelegentlich wird betont, dass es im Russchischen verschiedene Worte für Wahrheit gibt, правда (pravda) für relative oder subjektive Wahrheit und истина (istina) für absolute Wahrheit , aber als Tscheche erinnert mich das an "jistota", was ich ...
... mit "Gewissheit" übersetzen würde, und im Deutschen fällt mir noch Wirklichkeit, Faktizität, Realität, Tatsächlichkeit und Gegebenheit ein, woraus man jetzt ein besonderes Augenmerk der Deutschen auf Wahrheit konstruieren könnte, aber im Russischen findet sich Entprechendes.
Stattdessen halte ich das Konzept der "taktischen Wahrheit" für wichtig, was man einerseits als "Notlüge" sehen könnte, aber es geht in Russland noch etwas tiefer: Als Vertreter einer "in-group" ist es völlig akzeptiert, dass man gegenüber Vertretern einer "out-group" lügt.
Dabei wissen alle in der "in-group" darüber Bescheid, dass es sich um eine Lüge handelt, aber da der Zweck ist, die Interessen der "in-group" zu schützen, macht es den Vertreter für die "in-group" nicht zum Lügner, denn innen kennen ja alle die Wahrheit.
Für die typischen Russen haben Putin und Lavrov also gar nicht gelogen, als sie sagten, dass Russland nicht in die Ukraine einmarschieren würde, sondern mit "taktischer Wahrheit" gearbeitet, denn die Russen wussten bzw. konnten wissen, dass das Gegenteil wahr ist.
Die Entrüstung im Westen war groß, und man meinte, jetzt könne man Putin nichts mehr glauben, aber Putin konnte man noch nie glauben, und er hat schon immer frei gelogen, etwa über seine Giftmorde, wo aber immerhin noch Zweifel blieben, jedenfalls in der out-group.
Was das alles noch komplizierter macht ist, dass nicht immer klar ist, wer eigentlich gerade in-group oder out-group ist, aber das messaging ist klar: Die Polonium- und Novitschok-Morde waren klar eine "Message", die an Verräter im Ausland gerichtet war.
Das große Diplomatensterben 2016/2017 (9 Tote) richtete sich an Mitarbeiter des auswärtigen Dienstes, und das Mittel "Herzinfarkt" ist in Russland synonym mit interner "Säuberung". Kein Arzt wird dort einen solchen Patienten anfassen, weil dieser "Herzinfarkt" ansteckend ist.
Neben Herzinfarkt ist Defenestration ein weiteres Mittel, Leute aus dem Weg zu schaffen, etwa die eines FSB-Agenten in der russischen Botschaft im Oktober 2021. Üblich scheint diese Praxis vor allem zu sein, um unangenehme Zeugen zu eliminieren und andere vom Reden abzuhalten.
Für uns mag das alles schockierend klingen, aber im Russischen Staat ist das so skandalös wie Morde im Mafia-Milleu von Mafiosi als skandalös empfunden werden - gar nicht. Es ist eine normale Regierungstechnik, mit jahrhunderte langer Tradition.
Russland wird seit über 500 Jahren mit drei Prinzipien regiert: Lügen, Korruption, Gewalt. Dies ist Folge der Mongolenkriege zwischen 1223 und 1480, die unglaubliche Brutalität und Chaos über Russland gebracht hatten, wo erst mit Iwan dem Großen Ordnung einkehrte.
Putin ist wie ein Mafiaboss. Er muss sich nur an ein Gesetz halten: Stärke zeigen. Das ist die einzige Anforderung an den Job, alles andere ist optional. Er kann ruhig zig Millionen Russen umbringen wie Stalin, ohne dass das seiner Beliebtheit groß abträglich wäre.
Scheint ein russischer Herrscher schwach, ist er weg vom Fenster. Der Zar im ersten Weltkrieg, Chruschtschow nach der Kubakrise, Breschnew, Andropow und Tschernenko nach der sich abzeichnenden Katastrophe in Afghanistan, Gorbatschow nach dem Verlust des Ostblocks.
Ein schwacher Herrscher bedeutet Chaos, ein starker Herrscher Ordnung, und Ordnung sticht Freiheit. Als schwächster Herrscher aller Zeiten gilt Boris Jelzin, der mit nur 6% Zustimmung aus dem Amt schied. Seitdem ist Demokratie in Russland synonym mit Chaos und Schwäche.
Putin, zuvor unbekannter Technokrat, durfte sich im 1. Wahlkampf in kürzester Zeit als harter Terroristenbekämpfer und mit Hilfe des 2. Tschetschenienkriegs profilieren und hat seitdem nie unter 60% Zustimmung gehabt. Er erfüllt perfekt die Anforderungen an russische Herrscher.
Hier haben viele über Putins Hang zur Selbstdarstellung gespottet, das ikonische Bild mit nacktem Oberkörper auf dem Pferd wird gern Putins Eitelkeit zugeschrieben, aber er erfüllt damit nur das Anforderungsprofil an einen russischen Herrscher: Stärke suggerieren. (Forts. folgt)

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Mar 15
Kleines Covid-Update oder warum ich glaube, das es vorbei ist. Hier der Graph der 7-Tage-Fallsterblichkeit nach Altersgruppen und insgesamt (blau). Wir liegen bei den vor einem Monat Infizierten jetzt bei 0,09%. Image
Im Dezember 2021 bei Delta lagen wir bei 0,7% Image
Vor den Impfungen Ende 2020 waren es 4,55% Image
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Mar 14
Was mir missfällt ist, dass Putin noch immer das Heft des Handelns in der Hand hält, und der Westen nur reagiert und zu berechenbar ist, und es Putin erlaubt, neue Pläne zu schmieden und uns zu überraschen.
Eigentlich sollten der Westen mit seiner wirtschaftlichen Übermacht Putin überraschen und Drohkullissen rund um die Sowjetunion aufbauen und ihn ständig überraschen, und außerdem seine Einflussagenten im Westen, die Oligarchen festsetzen, ...
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Mar 14
Teil 3: Russland und die Russen sind so widerstandsfähig, weil Leiden in Russland zur Tugend erhoben wurde. Wer sichtbar leidet, das aber stoisch erträgt, erntet soziale Anerkennung und Status; das ist ein Grund, warum Russen oft mit einem leidenden Gesichtsausdruck rumlaufen.
Ein anderer Grund ist, um seine Meinung und Gefühle zu verbergen, die einen schnell in Probleme oder Gefahren verwickeln können, wenn die falsche Person merkt, was man denkt. Und schließlich noch, um Neid zu vermeiden.
Putin hatte das Problem, dass er mit seinem KGB-Training wenig charismatisch war, und wurde daher wie westliche Politiker in Körpersprache geschult, als er zum Präsidenten kandidierte, und viel von dem, was man sieht, ist kalkuliertes Schauspiel, auch seine Emotionen.
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Mar 14
Teil #2: Lügen, Korruption und Gewalt sind wie gesagt feste Prinzipien russischer Regierung seit Iwan dem Großen, und es scheint nur die Wahl zwischen Autokratie und Chaos zu geben; eine binäre Wahl, und das fehlgeschlagene demokratische Experiment hat das nur bestätigt.
Das russische feudale Herschaftsystem basiert dabei auf wenigen informellen Regeln:
1. Das Wort des Führers ist Gottes Wort
2. Eigentum gibst es nicht, nur Untereigentum und Besitz, die beide ans Amt gekoppelt sind
3. Stehlen ist ein anerkanntes Amtsprivileg mit zwei Regeln:
a) Nicht mehr stehlen, als dem Amt bzw. Rang angemessen ist
b) Nicht von den falschen stehlen
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Mar 13
Thread 2 of 2:
Turning Hitler into this mythical uber-villain also takes away responsibility from other people and denies the fact that there is a potential Hitler or Nazi living in everyone, waiting to come out and take power over you at the right opportunity.
Not everyone has the personality traits to become a powerful Nazi, and most people can resist, but denying that you might become or behave like a Nazi under the right circumstances does not reduce the probability, in the opposite.
There is also the problem that terms get mixed and muddied, especially most people are not aware about the difference between Nazism and Fascism, and that Hitler for example despised Mussolini's Fascism, while Mussolini did not buy into Hitler's racism.
Read 23 tweets
Mar 13
Thread #1 of 2:
Ok, I did want to let this one slide, but I think I owe some people an apology, try to set the record straight and give you a bit more context about this thread, especially this tweet that has caused so much outrage.
First of all, I do regret that tweet for two reasons: It is not historically accurate and a hyperbole, and it distracts from the point I was trying to make, and I should have known better than to be so sloppy on such a serious topic.
The tweet is out there, and I generally do not delete my tweets but prefer to live with my mistakes. However, the tweet has been reported and checked by Twitter a number of times, and they came to the conclusion that it does not violate laws or content guidelines.
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