Thread by @semanthis

Eine leider typische Konversation auf Twitter geht so:
Jemand schreibt, man könne auf die besonderen Bedürfnisse einer "Minderheit" alter oder schwerbehinderter Menschen keine Rücksicht nehmen. Diese müssten sich schon selbst schützen. 1/N

In nicht wenigen Fällen versteigen sich die Autoren sogar dazu, den "Vulnerablen" zu unterstellen, sie wollten für "ihre Bedürfnisse" die Gesellschaft als Geisel nehmen. 2/N

Wenn man dann entgegnet, dass derartige Thesen seien ableistisch und behindertenfeindlich, dann ist das Gegenüber nicht selten empört. Nicht selten behaupten diese Leute dann ja selbst irgendwie behindert zu sein (eingewachsener Zehennagel, Laktoseintolleranz, etc.)...3/N

..oder man habe vor 40 Jahren im Kindergarten eine behinderte Freundin gehabt.
Aber es ändert nichts daran.Die affirmative Betonung, die Vulnerablen sollten sich doch selbst schützen und die Gesellschaft könne keine Rücksicht nehmen ist der Kern jeder Behindertenfeindlichkeit.4/N

Der leider inzwischen viel zu wenig beachtete Philosoph John Rawls schlug in seiner Theorie der Gerechtigkeit vor, bevor man seine Urteile über gesellschaftliche Fragen fälle, solle man sich in einen fiktiven Zustand des "Nichtwissens" vesetzen (de.wikipedia.org/wiki/Schleier_…) 5/N

und beim Urteilen sich von der Annahme leiten lassen, dass man nicht wisse in welcher Position man von dem Urteil tangiert sei. Im Falle von Behinderung solle man also reflektieren, dass man selbst auch behindert sein könne und entsprechend sein Urteil fällen. 6/N

Tatsächlich ist dieses einzuübende Gedankenexperiment alles andere als kontrafaktisch. Sofern wir nicht Opfer eines Unfalls werden, werden fast alle von uns irgendwann im Laufe ihres Lebens zur Gruppe der "Vulnerablen" gehören. 7/N

Diese Verdrängung der eigenen (faktischen oder künftigen) Vulnerabilität macht die Diskussion über sinnvolle und gerechte Maßnahmen im Zuge der #Pandemie nicht gerade einfacher. 8/N

Aber man sollte sich vergegenwärtigen, daß das Fundament, daß wir gerade legen (oder eben auch zerstören) nicht nur andere in ihrem Leben tangieren wird, sondern in ferner oder naher Zukunft auch uns selbst. 9/N

Die Rücksichtslosigkeit, der Egoismus, den mancher gerade propagiert, der wird diesen in einem anderen Feld irgendwann auf die Füße fallen. Von einer #inklusiven Gesellschaft profitieren alle - spätestens dann, wenn sie selbst der #Inklusion bedürfen. 10/N