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Jun 1 30 tweets 8 min read
Heute sinken die Spritpreise. Vielleicht nicht so deutlich, weil die Mineralölwirtschaft ein Teil der geschätzt 3,4 Mrd. als Gewinn verbucht. Das sind zwar nur etwa 12% der Entlastungspakete, aber in meinen Augen so kontraproduktiv, dass man sich damit befassen muss. 1/x
Verteilungswirkung: Im Gegensatz zu anderen Energieträgern geben ärmere Haushalte nicht einen größeren Anteil ihres Einkommens für Benzin und Diesel aus als Reichere. Damit werden also alle etwa prozentual gleichmäßig entlastet, was ja auch das Ziel der FDP war. 2/x
Das DIW hat in seinem Wochenbericht 17/2022 festgestellt, dass auch nach den Entlastungen durch die Regierung ärmere Haushalte prozentual stärker getroffen werden: Bei den ärmsten 10% ein Rückgang des Nettoeinkommens um 3%, beim obersten Dezil 1,3%. 3/x
Das ist besonders deswegen schwierig, weil arme Haushalte keine Reserven haben. Ihre Sparquote ist in der Regel Null. Ihnen bleibt also nur der Weg diese Belastungen durch Verzicht auf Konsum auszugleichen. Und dass bei Menschen, denen schon heute viel fehlt. 4/x
Es hätte daher geholfen auf die Spritpreissenkung zu verzichten, und das Geld für höhere Einmalzahlungen bei Grundsicherung, Heizkostenzuschuss oder Energiepreispauschale einzusetzen. Die Ampel sah sich aber gezwungen auch etwas für die Klientel der FDP zu tun. 5/x
Die Anreizwirkung ist ebenfalls schlecht, und das ist noch problematischer. Gerade wenn man ein Ölembargo gegen Russland verhängt, wäre es wichtig gewesen auch Maßnahmen zu verabschieden, die den Verbrauch/die Nachfrage reduzieren. 6/x
Eine Preissenkung macht genau das Gegenteil. Die Annahme, dass ein Embargo Russland am Ende höhere Einnahmen bescheren könnte, ist in meinen Augen komplett unrealistisch. Wir haben es aber auch ein stückweit selbst in der Hand, wie gut das Embargo wirkt. 7/x
Maßnahmen die den Ölverbrauch reduzieren, helfen einen weiteren Preisanstieg auf dem Weltmarkt zu verhindern. Es erstaunt daher, wenn die Regierung nicht nur auf solche Maßnahmen verzichtet, sondern heute sogar eine Preissenkung in Kraft tritt, die das Gegenteil bewirkt. 8/x
Jetzt werden Einige sagen, dass viele Menschen auf das Auto angewiesen sind. Das stimmt in einigen, aber längst nicht in allen Fällen. Der schlecht verdienende Fernpendler, dem nur das eigene Auto mit hohem Verbrauch zur Verfügung steht, scheint mir eher die Ausnahme. 9/x
Lt. Verkehr in Zahlen (BMDV) liegt bei über ¾ der Erwerbstätigen der Arbeitsweg bei unter 25 km. Auf über 50 km kommen sogar nur 5%. Ca. die Hälfte pendelt nur in der eigenen Gemeinde. Bei 48% beträgt der Arbeitsweg weniger als 10 km, aber nur 10,5% fahren mit dem Rad. 10/x
Der Gesamtverbrauch an Kraftstoffen stagniert, weil höhere Effizienz von steigender Fahrleistung und größeren und schwereren Autos überkompensiert wird. Auch sitzen im Durchschnitt nur noch 1,44 Personen in einem Auto. 11/x
Ja, über 2/3 nutzen das Auto für den Weg zur Arbeit. Daraus kann man aber nicht ableiten, dass sie keine Alternative haben. Die genannten Fakten deuten eher darauf hin, dass Viele auch einfach aus Bequemlichkeit und weil sie es sich leisten können das Auto benutzen. 12/x
Schließlich entfallen auch nur 20% der gefahrenen Kilometer auf Arbeit und Ausbildung. Ich behaupte nicht das Freizeitfahrten grundsätzlich verzichtbar sind, aber Verhaltensänderungen sind hier meist noch leichter möglich. 13/x
Es rächt sich aber natürlich auch, dass die deutsche Verkehrspolitik einseitig auf das Auto gesetzt hat. In Deutschland liegt der Anteil des PKW an den Personenkilometern bei 83%; über dem EU-Schnitt. Auch beim Güterverkehr stagniert der Anteil der Straße bei über 80%. 15/x
Gerade Länder mit geringerem Einkommen wie Tschechien und Ungarn haben einen höheren Anteil des ÖPNV. So wie Deutschland in früheren Zeiten. Das zeigt, dass das Auto eben nicht die Lebensnotwendigkeit ist, die Viele darin sehen, sondern oft auch Luxus. 16/x
Aber es gibt Menschen, die keine Alternative haben und das Auto zur Arbeit nutzen müssen und gleichzeitig über ein geringes Einkommen verfügen (und die gleichzeitig nichts für die verfehlte Verkehrspolitik der letzten Jahrzehnte können, sondern deren Opfer sind). 17/x
Es sind aber viel weniger Menschen als die öffentliche Debatte suggeriert. Am Ende wäre Ihnen mit einem höheren Pauschaltransfer auch mehr gedient, als wenn man die Gesamtheit aller Fahrten, also auch den SUV, subventioniert. 18/x
Mitnahmeeffekte durch die Mineralölwirtschaft würden so weitgehend vermieden. Danach würden nur noch wenige Härtefälle verbleiben (die verbleiben aber auch nach den aktuellen Entlastungspaketen der Regierung). Für sie wären Sonderregelungen möglich und auch administrierbar. 19/x
Ich verstehe auch nicht, warum man die Arbeitgeber bei Fahrten zur Arbeit aus der Verantwortung entlässt. Fahrtkostenzuschüsse des Arbeitgebers sind steuerlich begünstigt. Diese Begünstigung auszuweiten wäre besser gewesen als die Energiesteuersenkung. 20/x
Auch ein Recht auf Home-Office kann helfen den Verkehr zu reduzieren, und die Möglichkeiten von Fahrgemeinschaften sind bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Auch ordnungspolitische Maßnahmen wie ein Tempolimit würden einen Beitrag leisten den Verbrauch zu senken. 21/x
Ich habe verstanden, dass sich ein Tempolimit mit dem Freiheitsverständnis der FDP nicht in Einklang bringen lässt. Vermutlich gilt das Gleiche noch stärker für Fahrverbote an Sonntagen bzw. in Innenstädten, obwohl so auch neue Lebensqualität entstehen könnte. Schade. 22/x
Die Anzeichen, dass die Mineralölwirtschaft sehr gut an den steigenden Preisen verdient, sind nicht zu übersehen. Benzin- und Ölpreis haben sich entkoppelt. Es gibt eine zu hohe Marktmacht und daher wird mindestens ein Teil der 3,4 Mrd. auch in diesen Taschen landen. 23/x
Christian Lindner macht es sich zu einfach, wenn er auf das Kartellamt verweist. Er könnte mit einer Übergewinnsteuer selbst etwas tun. Seine Ausflüchte in rechtliche Bedenken und administrative Probleme sind einem Liberalen unwürdig. Anpacken und Ausprobieren! 24/x
Bleibt die andere umstrittene Maßnahme des Entlastungspakets: Das 9-Euro-Ticket. Dessen Verteilungswirkung wurde meines Wissens nach bisher nicht errechnet, aber vieles spricht dafür, dass sie besser ist als bei der Energiesteuer-Senkung. 1/x
Aber natürlich löst das 9-Euro-Ticket nicht die Probleme des ÖPNV, die eine verfehlte Verkehrspolitik über Jahrzehnte angerichtet hat. Dafür kann man aber auch nicht eine temporäre Krisenmaßnahme verantwortlich machen. 2/x
Die Ticketeinnahmen der Unternehmen des VDV lagen 2019 bei 13,3 Mrd. Euro. Das ist also nicht das Hauptproblem. Eine um 1%-Punkt höhere Mehrwertsteuer oder Einkommensteuer (mit besserer Verteilungswirkung) könnte für den Nahverkehr diese Einnahmen ersetzen. 3/x
Das Problem ist, dass das Angebot dafür nicht ausreicht. Die bestehende Infrastruktur könnte die, dann deutlich höhere, Nachfrage nicht bewältigen. Ein Ausbau dauert Jahre, häufig Jahrzehnte. Die Ampel muss insofern mit den falschen Entscheidungen der Vergangenheit arbeiten. 4/x
Die Ticketpreise dienen also mindestens ebenso dazu, die Nachfrage an ein zu geringes Angebot anzupassen, als zur Finanzierung der Verkehrsunternehmen. Für letzteres gäbe es Alternativen. Für Ersteres kurzfristig nicht. 5/x
Der jetzige Ansturm hat also sein Gutes. Er schafft hoffentlich ein politisches Momentum für eine Ausbauinitiative, deren Früchte wir dann später ernten können. Immer daran denken, wenn ihr in den kommenden Monaten dicht an dicht in der vollgestopften Regionalbahn steht. 😊 6/6

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