"Der Mann ist in Not, dem helfe ich." Marie #Burde (* 1892 (#otd), † 1963) lebt im Wedding in bitterer Armut, verkauft gelegentlich Zeitungen und sammelt Lumpen von der Straße - und sie rettet unter dem Naziterror drei jungen Juden das Leben, die sie ab 1943 versteckt.

#Berlin
Rolf und Alfred #Joseph tauchen nach der Deportation ihrer Eltern im Sommer 1942 gemeinsam in Berlin unter. Sie schlagen sich ohne Geld und Lebensmittelkarten durch und schlafen auf der innerstädtischen Flucht für mehrere Monate in Bahnhofshallen, auf Friedhöfen und in Wäldern.
Der Zufall hilft ihnen, als eine alte Bekannte das Bruderpaar im Wedding auf eine kaum beachtete Lumpensammlerin hinweist: Marie #Burde hat keine Kinder und lebt allein in der Tegeler Straße 13 in einer heruntergekommenen Kellerwohnung - und sie wird zur Retterin in der Gefahr.
Rolf #Joseph begegnet ihr zuerst und hat geschildert, wie Marie #Burde auf die Frage reagierte, ob sie die Juden bei sich verstecken werde: "Der Mann ist in Not, dem helfe ich." Sie nimmt die Brüder bei sich auf - und später auch den gleichfalls untergetauchten Arthur #Fordanski.
Sie ist eine eigentümliche Frau, tief verarmt, vor allem aber hilfsbereit und nahezu selbstlos. Sie beherrscht mehrere Fremdsprachen, achtet aber nicht auf körperliche Hygiene, ist indes hochintelligent - und zugleich kann es geschehen, dass sie sich zwei linke Schuhe anzieht.
Der Keller, in dem sie lebt, ist voller Flöhe - und zugleich ernährt sich Marie #Burde strikt vegetarisch. Das Fleisch, das sie für Lebensmittelkarten bekommt, gibt sie den bei ihr versteckten Juden. Möbel besitzt sie nur wenige - und sie schläft auf Stapeln von alten Zeitungen.
Nachbarn werden eines Tages auf die jungen Männer aufmerksam, die alle "Anfang 20" sind, und stellen Fragen: Marie #Burde gibt sie als ihre Neffen aus. Die Polizei klopft kurz darauf an ihre Wohnungstür - und die drei Juden bleiben hinter hohen Altpapierstapeln unentdeckt.
Marie #Burde verkauft gelegentlich auch Altwaren und sammelt, um ihre Schützlinge zu ernähren, immer wieder Gemüse auf, das auf Wochenmärkten achtlos weggeworfen wird. Sie bereitet vor allem Kohlrüben zu und teilt diese immer bereitwillig - wenn es denn etwas zu essen gibt.
Das Leben ist atemlos: Rolf #Joseph wird von der Gestapo verhaftet und gefoltert, entkommt aus einem Zug, der ihn in das KZ Auschwitz deportieren soll, täuscht in neuerlicher Haft eine Krankheit vor und flieht dann vor der SS aus dem Jüdischen Krankenhaus erneut zu Marie #Burde.
Herbst 1943: Die Kellerwohnung brennt nach einem Bombenangriff aus. Frau #Burde aber hilft mit einem weiteren Obdach. Sie besitzt eine Gartenlaube im brandenburgischen Schönow, direkt nordöstlich bei Berlin - und hier, hinter hohem Gras, versteckt sie die drei Männer erneut.
Alfred #Joseph wird im August 1944 ebenfalls verhaftet, sodann in das KZ Sachsenhausen deportiert und auf einen "Todesmarsch" geschickt - und er entkommt. Der Fluchtweg führt ihn zurück in den Garten von Marie #Burde. Das Kriegsende erleben alle drei Männer verborgen in Schönow.
Die Helferin verbleibt nach 1945 in Berlin und lebt im sowjetischen Sektor. Das von ihr gerettete Bruderpaar #Joseph entscheidet sich gegen eine Auswanderung und lebt fortan ebenfalls wieder in Berlin, allerdings in der westlichen Stadthälfte. Die Verbundenheit bleibt sehr fest.
Rolf und Alfred #Joseph besuchen ihre Retterin nach 1945 oft von West-Berlin aus und unterstützen sie im Alltag, so gut es geht. Ehrungen aber lehnt sie nach dem II. Weltkrieg immer ab. (Die Anerkennung als "Gerechte unter den Völkern" erfolgt posthum und erst im Jahr 2012.)
Marie #Burde († 1963) verbringt ihr Lebensende still und in einer Pflegeeinrichtung.

Die Zuneigung, die sie einst für die #Joseph-Brüder und für Arthur #Fordanski empfand, hat Rolf Joseph lange nach dem II. Weltkrieg liebevoll in Worte gefasst: "Die wäre für uns gestorben."

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Jun 7
Lietzenburger Straße 72. Erinnerung an Maria #Terwiel (* 1910 (#otd), † 1943) und Dr. Helmut #Himpel (* 1907, † 1943), miteinander verlobt, unter dem Naziterror für die "Rote Kapelle" im Widerstand und schließlich im Strafgefängnis Plötzensee mit dem Fallbeil ermordet.

#Berlin ImageImageImage
Maria #Terwiel, römisch-katholische Christin, steht im Jahr 1934 in München kurz vor Abschluss ihres Jurastudiums, als ihr durch die rassistischen Gesetze der Nazis wegen ihrer jüdischen Wurzeln die Zulassung zum Examen verweigert wird. Sie geht dann zu ihrer Familie nach Berlin.
Arbeit findet sie als Sekretärin in einem französisch-schweizerischen Textilunternehmen. Helmut #Himpel, seit studentischer Zeit mit ihr bekannt, wird Zahnarzt - und auf die Verlobung beider kann keine Eheschließung erfolgen, da Maria #Terwiel als so genannte "Halbjüdin" gilt.
Read 8 tweets
May 24
Zimmerstraße in Mitte. Ich will euch von Charlotte #Erxleben (* 1906, † 1981) berichten, die unter dem Naziterror als Bordellbetreiberin bzw. als Prostituierte mehrere jüdische Mitmenschen rettete. Ich kann - leider - keine Gedenktafel posten, denn die gibt es nicht.

#Berlin
Charlotte #Erxleben lebt ab dem Jahr 1939 in Berlin und erwirbt hier vom mütterlichen Erbe in der Zimmerstraße 62 eine Privatpension mit sechs Zimmern auf zwei Etagen. Sie gibt an, als "Zimmervermieterin" zu arbeiten, wobei sie ihren Wohnraum vor allem als Bordell nutzt.
Das Etablissement, in dem auch sie selbst als Prostituierte arbeitet, zählt in Berlin zu den "gehobenen" Salons. Die Betreiberin hilft über mehrere Jahre hinweg verschiedenen Jüdinnen und Juden, die sie in ihrem Bordell (teils wiederholt) versteckt und mit Lebensmitteln versorgt.
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