Soziale Verfolgung im Nationalsozialismus:
Die „Bettlerrazzien“ vom 18.9.33 bis zum 23.9.33
Armut und Obdachlosigkeit bestimmten das Leben sehr vieler Menschen besonders seit der Weltwirtschaftskrise 1929. Seit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten waren die Menschen
zusätzlich in Gefahr, ins Visier der Verfolger zu geraten. Die „Bettlerrazzien“ des September 1933 waren der Auftakt zur Verfolgung der sogenannten „Asozialen“. In der Pressekampagne, die dazu lanciert wurde, hieß es zum Beispiel: „Schluss mit der Bettlerplage!“. Deutschland
sei zu arm, „um berufsmäßige Bettler, Arbeitsscheue, Trinker und Betrüger zu unterstützen. Wir brauchen unser Geld für die Anständigen und Gesunden! … Unterstützt SA und SS in ihren Maßnahmen!“. Am 18. September, einem Montag, begannen Polizei, SA, regional auch SS u Stahlhelm
mit den Festnahmen. Auf Straßen und Plätzen, aber auch in Nachtasylen, Obdachlosenheimen und Kneipen wurden Obdachlose und Bettler*innen festgenommen. Die Menschen wurden in Arbeitshäuser, Gefängnisse, eigens eingerichtete Konzentrationslager wie etwa in Elmshorn oder
Meseritz oder in bestehende frühe Konzentrationslager wie Dachau gebracht. Die Gesamtzahl der in der Woche vom 18. bis zum 23. September 1933 Festgenommenen lässt sich nur grob auf mehrere Zehntausend schätzen. Es waren weit überwiegend Männer. Unter den etwa 5 % Frauen dürften
etliche Sexarbeiterinnen gewesen sein. Der Großteil der verarmten Frauen aber, die wegen niedrigerer Löhne, der Diskriminierung verheirateter Frauen in der Arbeitslosenversicherung und der Kampagne gegen „Doppelverdiener“ stärker von Armut betroffen waren, war offenbar in der
Öffentlichkeit nicht gleichermaßen sichtbar. Ob sie in Ehen, Familien, Bekanntenkreisen oder als versteckte Sexarbeiterinnen überlebten oder etwa schneller als Männer in Einrichtungen der „Fürsorge“ landeten, bleibt unklar. Dennoch war „Doppelverdiener“ neben „Arbeitsscheue“,
„Säufer“, „Tagediebe“ und „Volksschädlinge“ eine der Diffamierungen, die der Völkische Beobachter verwendete. Männer wurden also an den Pranger gestellt, wenn sie arbeitslos waren, Frauen dagegen, wenn sie einer Erwerbsarbeit nachgingen und gleichzeitig verheiratet waren.
Viele der Verhafteten wurden nach einigen Tagen oder Wochen wieder freigelassen, andere aber unbefristet festgehalten. In dieser frühen Zeit hatte der NS-Staat noch nicht die Kapazitäten zur Unterbringung und Ausbeutung dieser großen Zahl an Gefangenen. Das änderte sich in
der Folgezeit, als immer wieder ähnliche Razzien gegen Obdachlose und Bettler*innen stattfanden, und die Gefangenen unter der Häftlingskategorie der sogenannten „Asozialen“ auch in die großen Konzentrations- und Arbeitslager verschleppt wurden. Viele von ihnen überlebten nicht.
Für diejenigen, die wieder frei waren, war es vor allem wichtig, in der Öffentlichkeit nicht mehr sichtbar zu sein und sich nur noch dort aufzuhalten, wo selten Razzien stattfanden. Einige Asyle platzten aus allen Nähten, andere wurden gemieden. Städte beklagten sich über den
Zustrom von Menschen, die sich sesshaft machen wollten. Zum neuen Geschäftsmodell wurden private Männerwohnheime. Am 21.Oktober 1933 meldete die Vossische Zeitung, das Betteln auf den Straßen sei so gut wie verschwunden, ´und auch das Musizieren und Hausieren in Häusern und
Hinterhöfen habe merklich nachgelassen´. Für die bedürftigen Menschen, ob obdachlos oder nicht, war es nun noch schwerer, ihr Überleben zu sichern.
Eine Arbeit zu finden wurde für junge, gesunde Männer in den Folgejahren angesichts von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Rüstungs-
produktion leichter. An eine Wohnung zu kommen jedoch nicht, denn anders als vielfach angenommen wurde der öffentlich geförderte Wohnungsbau in der NS-Zeit stark zurückgefahren, zudem waren die Mieten für die unteren Einkommensgruppen viel zu hoch.
Bereits im Juli 1933 war das
„Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft getreten. Zu den „Erbkrankheiten“ zählte man auch sog. „angeborenen Schwachsinn“ und darunter „moralischen Schwachsinn“ sowie „mangelnde Lebensbewährung“. Auf diese Weise wurde die Verfolgung von Menschen, die für unwürdig
befunden wurden, der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ anzugehören oder die die Anforderungen des Arbeits- oder Wohnungsmarkts nicht erfüllen konnten, biologisch-genetisch gerechtfertigt. Wohnungs- und Arbeitslosigkeit konnte zur Zwangssterilisation führen.
Insbesondere die Arbeitshäuser und andere Einrichtungen der „Fürsorge“ wurden nach Inkrafttreten des Gesetzes systematisch nach „Erbkranken“ durchsucht.
Anstatt die Ursachen der Armut zu bekämpfen, versuchte man also die Armen auszurotten.
Literaturtipps:
Wolfgang Ayaß, „Asoziale“ im Nationalsozialismus
Christa Schikorra, Kontinuitäten der Ausgrenzung: „Asoziale“ Häftlinge im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück
#HumanRights #BGE #noafdp #NoNazis #GegendasVergessen #WohnenIstGrundrecht @MieterparteiB @MilieuschutzNK

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