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Oct 20 32 tweets 6 min read
Als Jakob #Augstein zum Schluss nach den aktuellen Friedensnobelpreisträgern fragen wollte, lachte Tanja Maljartschuk. „Warum lachen Sie?“ – "Also, Sie haben mich nicht überrascht.“ Alle seine Fragen seien so erwartbar gewesen.

Gerade das macht
1/
radioeins.de/programm/sendu…
diese Sendung zu einem bemerkenswerten Dokument: Selten findet sich die Unwissenheit, Ich-Bezogenheit und das Desinteresse vieler deutscher Intellektueller an der Realität der Länder im Allgemeinen und der #Ukraine im Speziellen östlich der Oder in so konzentrierter Form.
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Kennzeichnend für das Gespräch war, dass Augstein beständig die Rollen wechselte: Vom Moderator zum Akteur, der seine eigenen Standpunkte loswerden will, und zurück zum Journalisten, der bloß Fragen stellt. Letztlich aber war er nur an sich selbst interessiert, wie gleich
3/
zu Beginn zeigte, als Maljartschuk gestand, sie habe mit sich gerungen, ob sie nicht doch absagen solle. Das überrasche ihn: „Ich hätte zum Beispiel nicht abgesagt, ich hätte mich total gefreut, wenn ich mich eingeladen hätte“, um über ein ihm wichtiges Thema zu sprechen.
4/
Von Beginn an fehlte es Augstein an Empathie, sich in die Lage von Maljartschuk hineinzuversetzen: Sie habe im Frühjahr gesagt, nun könne sie kein Gedicht, keinen Roman mehr schreiben - das verstehe er nicht: "Andere Leute würden sagen, das nährt geradezu Literatur."
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"Das ist der Unterschied zwischen uns", entgegnete sie, "Sie empfinden das distanziert, ich beneide Sie eigentlich; ich bin mitten in dieser Sache." Augstein warf noch ein: "Kunst kann doch auch erlösen, oder nicht?" war dann aber bald nicht mehr richtig interessiert und ging
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zum nächsten Thema über: dem #Pazifismus. Katja Petrowskaja habe gesagt, sie seien zwar alle mal Pazifisten gewesen, jetzt aber eben nicht mehr. "Ändern sich denn die ethischen Maßstäbe mit der persönlichen Betroffenheit?" - "Ja, klar", antwortete Maljartschuk, wenn sich
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eigentlich alles gesagt. Nur für Augstein nicht, der sich über Intellektuelle wunderte, die nach dem 24.2. plötzlich "sehr stark diesen Krieg unterstützten". Das war eine verräterische Formulierung - denn natürlich unterstützen Leute wie @fuecks nicht "diesen Krieg", sondern
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die Verteidigung *gegen den Krieg*. Augstein klagte, da sei "so ein Ton" gewesen, "den kannte ich ehrlich gesagt vorher nicht". Maljartschuks trockene Antwort: "Ja, weil die Realität sich verändert hat." Manchmal müsse man prüfen, ob die eigene Weltanschauung noch stimme.
9/
Dazu war Augstein allerdings erkennbar nicht willens: Die ukrainischen Intellektuellen täten so, als habe es vor dem Überfall auf ihr Land "noch nie eine kriegerische Auseinandersetzung gegeben" und als seien alle bisherigen moralischen Maßstäbe hinfällig - und verwies auf
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Afghanistan, Syrien, Libyen, Irak - mithin alles Kriege, die dem Westen zur Last gelegt werden. Als Maljartschuk dann kurz danach auf Tschetschenien hinwies, würgte er sie hingegen schnell ab: "Lassen Sie uns doch über den Krieg reden, den wir jetzt gerade am Wickel haben."
11/
Wie groß der Unwille Augsteins ist, sich mit der Realität des Krieges gegen die Ukraine auseinanderzusetzen, zeigte v.a. sein Beharren darauf, man müsse mit Russland verhandeln: "Ist es nicht so, dass man nur mit seinen Feinden Frieden finden kann?"
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Mit Putin sei doch schon seit 2000 verhandelt worden, entgegnete Maljartschuk, trotzdem habe er Tschetschenien zerbombt, Georgien angegriffen, die Krim annektiert und schließlich die Invasion in der Ostukraine begonnen: "Die bisherige Politik hat zu nichts geführt, oder?"
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Wie tief sich Augstein eingegraben hat, zeigte sich, als Maljartschuk ihn auf seine Aussagen zur Krim-Annexion ansprach. Er könne immer noch nicht beurteilen, so Augstein, ob die Krim völkerrechtswidrig annektiert worden sei - aber zum einen hätten viele Krimbewohner
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"gar nicht so ein großes Problem damit, von Russland annektiert zu werden", zum anderen hätte die Welt Putin die Krim belassen, wenn er sich damit begnügt hätte. Aber aus irgendwelchen Gründen, "die ich nicht verstehe", habe sich Putin nicht damit zufriedengegeben.
Seufz.
15/
Auf die naheliegende Idee, dass es gerade die butterweiche Haltung der internationalen Gemeinschaft war, die Putin zu weiteren Eroberungen anregte und ihn geradezu dazu einlud, kommt Augstein nicht.
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Ein anderes Thema brannte ihm aber ohnehin mehr unter den Nägeln: "Lassen Sie uns über den Atomkrieg reden" und zitierte aus einem ZEIT-Interview mit Präsidentenberater Arestowitsch, der dort erklärte, dass "wir Ukrainer kein bisschen Angst vor einer atomaren Bedrohung haben"
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"Geht Ihnen das auch so?", bohrte Augstein bei Maljartschuk nach, die konterte, in der Atomdrohung sehe sie ein Mittel, um den Westen von der Unterstützung der Ukraine abzubringen. Der folgende Wortwechsel war sehr aufschlussreich:
16/
Augstein: „Ich finde, es ist ein verdammt wirksames Mittel.“
Maljartschuk: „Ich finde es auch, weil Sie eben das jetzt fragen, und etwas anderes möchten Sie nicht wissen.“
Touché.
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Seine Angst vor dem Atomkrieg sei ja legitim, nicht aber sein Versuch, „diese Angst zu intellektualisieren“. Worauf wolle er hinaus: Dass die Ukrainer sich opfern, „damit der Rest der Welt gerettet wird. Was wollen Sie von den Ukrainern in diesem Moment?“
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Den Tiefpunkt des Gespräch bildete dann der Moment, in dem Augstein vor seinem Gast lang und breit seine "Kriegstraumta" ausbreitete: Als Nachgeborener des Tätervolkes dozierte er vor einer Nachgeborenen einer Nation, die von Deutschen unterjocht worden war, über Hamburgs
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Kriegsschäden. Er versuche, ihr "klarzumachen", was "der Krieg für mich, in meiner Biografie und in meinem Hintergrund bedeutet". Er habe daher "echt Angst vor Krieg, und zwar wirklich – nicht wie aus dem Fernsehen oder so". Und darum solle jemand wie Arestowitsch "die Klappe
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halten".

So viel also zur Glaubwürdigkeit von Augsteins Versicherung, er wolle den Ukrainern nichts vorschreiben.
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Umgekehrt war Augstein weniger sensibel: Was sei schon dabei, wenn Grenzen verschoben würden? Das könne man auch wieder ändern! "Gerade in Galizien, wo Sie herkommen, ist das sozusagen der Regelfall gewesen, dass die Grenzen immerzu wandern." Die Kriegstoten aber blieben tot
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Dass solche "Grenzverschiebungen" im "Regelfall" mit unzähligen Toten einhergegangen sind, scheint Augstein entgangen zu sein.
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Lieber spricht er davon, wie gut es doch sei, dass Paris, Rom, Venedig, Florenz nicht gegen die Deutschen verteidigt worden seien. Dass Rom und Florenz bombardiert worden, hat Augstein vermutlich verdrängt, und die Auswahl ist bezeichnend touristisch.
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Vor allem aber kommt Kiew darin nicht vor. Die Stadt selbst wurde letztlich auch nicht gegen die Deutschen verteidigt. Das hat die Besatzer dennoch nicht davon abgehalten, einen Urbizid zu verüben. Er begann mit dem Massaker von #BabynYar.
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Ein weiterer aufschlussreicher Wortwechsel entspann sich nach Augsteins Frage, ob Maljartschuk auch glaube, dass Putin die Ukraine vernichten wolle:
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Maljartschuk: Ja, das glaube ich. Haben Sie die Propagandisten Putins nicht gehört all diese Jahre, was sie gesagt haben?
Augstein: Ich kann kein Russisch, ich lese das nur aus der Zeitung.
Maljartschuk: Das ist das Problem, dass man nicht zugehört hat.
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Es gab in dem Gespräch noch weitere Punkte - zur Nato natürlich, zur Frage, warum er keine russische Autorin mit den Fragen zur Zerstörung ukrainischer Städten konfrontiere - aber Maljartschuks letztes Zitat ist eigentlich ein passendes resümierendes Schlusswort.
29/29
(Ganz davon abgesehen, dass Augstein im Unterschied zu Arestowitsch den Krieg eben doch nur aus dem TV kennt…)
* an der Realität der Länder östlich der Oder im Allgemeinen und der #Ukraine im Speziellen *

…muss es natürlich heißen :-)

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Oct 20
Wenn man sich fragt, warum so viele Leute seit 2014 nicht erkannt haben, welchen Kurs #Putin in der #Ukraine nahm, der lese auch Texte wie diesen von
@niggi, der sich an den zahlreichen kleinen Fehlern abarbeitet, die damals deutschen Medien in ihrer
stefan-niggemeier.de/blog/19716/von…
Berichterstattung zur "Krise" und dann zum Krieg unterliefen. Was er dort ablieferte, war eine Art Autoimmun-Überreaktion. Er ließ sich einreden, dass diese kleinen Fehler vielleicht doch auf ein größeres Problem mit den "MSM" hinwiesen. Er vertraute da ausgerechnet auf
die Nachdenkseiten, die schon 2014 klar verschwörungsmythisch unterwegs waren, und auf die 9/11-Truther Schreyer/Bröckers, die ja "viele unbequeme Fragen" gestellt hätten. Nur Fragen zu stellen ist eine Form von eleganter Weise etwas in Frage zu stellen, in Zweifel zu ziehen, und
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Oct 20
Lieber @Matthias_Kamann, das Experiment #Friedrichstraße ist v.a. gescheitert, weil es kaputtgeredet wurde. Es hätte einiges verbessert werden können (z.B. den Radweg seitlich statt in der Mitte zu legen), aber daran hatte kaum jmd Interesse. Stattdessen

welt.de/politik/deutsc…
große Aufregung um die provisorische Gestaltung (die im Unterschied zum jährlichen Weihnachtsrummel auf den Gendarmenmarkt irgendwann verschwindet) und die "Radelraser" (von denen die Polizei bei Geschwindigkeitskontrollen keine dingfest machen kann). Merkwürdig, dass in anderen
Städten derlei "Shared Spaces" funktionieren - etwa in Jerusalem, wo auf der Jaffa-Street die Radler kreuz und quer flitzen und auch noch eine Tram verkehrt.
Ähnlich ist es übrigens auf dem Alex, wo auch viele Radler unterwegs sind - und viel mehr Fußgänger. Dass dort kaum von
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Oct 18
"Männer sowie Bürger mit höherem Schulabschluss vertrauen #Russland überdurchschnittlich", heißt es in der @welt.
"Vertrauen" war nur gar kein Thema in der Umfrage der @KoerberIP. Der Text zeigt beispielhaft, wie man deren Ergebnisse verzerren kann.
1/11
welt.de/politik/auslan…
Gefragt wurde nämlich nach der „militärischen Bedrohung“ durch Russland - nicht nach „Vertrauen in die Politik Wladimir Putins“. Auch wer Deutschland nicht bedroht sieht, kann Putins Regime misstrauen.
2/11 Image
Die @welt zitiert den Politikwissenschaftler Karl Kaiser (früher @dgapev, jetzt Harvard): Die Ergebnisse seien "schockierend" und offenbarten „tieferliegende Überzeugungen“, die Berlin Probleme schaffen würden, wenn es gelte, die Ukraine in einer Rezession zu unterstützen.
3/11
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Oct 10
Die Redaktion der @SZ gibt diesem Text in der Printausgabe die Überschrift "Sesselgeneräle, in Hitze". Es ist ein widerlicher Text, der Befürwortern von #Waffenlieferungen an die #Ukraine unterstellt kriegsgeil zu sein, weil sie sich langweilen.
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sueddeutsche.de/kultur/ukraine…
Die Autorin Natalie Weidenfeld beklagt die angebliche Unlust der Intellektuellen, die Komplexität der Lage zu erfassen - und preist als Vorbild "gerade ältere Ex-Generäle, Politiker und Sicherheitsexperten" wie Dohnanyi & Co, die sich noch an die Atomkriegsangst erinnern.
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Leider nur haben diese Generäle und Politiker seit dem Ende des Kalten Krieges nur nicht dazu gelernt und stecken noch im Denken von Einflusssphären fest. Dass ukrainische Politik seit mehr als 30 Jahren in Kiew gemacht wird und nicht in Moskau, ist ihnen unbekannt.
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Read 11 tweets
Oct 9
@gerhard_mangott schreibt über Putin - und zeigt schon durch innere Widersprüche, dass er diesen Machthaber kein bisschen verstanden hat. Dafür bringt er für dessen Handeln viel Verständnis auf und suggeriert, der Westen habe ihn nicht genug betüddelt
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m.focus.de/politik/auslan…
Hier bedient Mangott das Narrativ, in Russland könne ein funktionierender Staat nur durch Gewalt geschaffen werden - nach dem Motto „der Russe muss die Knute spüren“. Tatsächlich war Putin v.a. am Ausbau der (häufig dysfunktionalen) „Machtvertikale“ interessiert.
2/
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Sep 16
Unsere tägliche Ladung Strohmänner werden heute von @SabineRennefanz präsentiert. Auch ihr ist es unmöglich, sich mit den Argumenten der Befürworter:innen von #Waffenlieferungen an die #Ukraine auseinanderzusetzen, ohne diese zu verzerren
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spiegel.de/politik/deutsc…
"Wenn man die Debatte verfolgt, könnte man...den Eindruck bekommen haben, dass die Ukraine den Krieg...längst gewonnen hätte, wenn nicht die...Bundesregierung sich der Unterstützung des...Landes verweigern würde. So ein Quatsch!"

Richtig, denn das hat niemand nahegelegt.
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Kritisiert wird nicht, dass der Ukraine Wohl und Wehe v.a. von uns abhängt, sondern wir mehr tun könnten, uns aber wegducken.
Ihr Strohmann erinnert an die von Gegnern des Klimaschutzes: D sei nur für 2% des CO2-Ausstoßes der Welt verantwortlich, darauf komme es also nicht an.
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Read 21 tweets

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