Gemäß den Kommentaren scheinst du entschlossen, dieses Projekt trotz der Kritik durchzuziehen. Das kann dir niemand verbieten, darum möchte ich an dieser Stelle auf einige der Fallstricke hinweisen, die dein Experiment verfälschen werden. Ein 🧵
Zuerst möchte ich allerdings erklären, warum viele von Armut betroffene Menschen so gereizt auf deine Ankündigung reagieren.
Mit der Einführung der #Agenda2010 wurde ein Narrativ über Arme sehr stark: der "Sozialschmarotzer" der den Staat und die Steuerzahler ausbeute, der /2
in der sozialen Hängematte lebe, sich auf Kosten der Gemeinschaft ein schönes Leben mache. Das wurde garniert durch Erzählungen von mangelhafter Bildung und maximal unsozialem Verhalten. Die Medien, vor allem die rechteren (Springer, RTL), griffen das auf und starteten Formate /3
die wir heute als Scripted Reality oder Doku Soaps kennen. Arme Menschen wurden gemäß dem herrschenden Klischee dargestellt, was das Bild des ungebildeten Sozialschmarotzers, der keinen Bock auf Arbeit hat und nur im eigenen Dreck lebt, extrem verfestigte. Dieses Bild ist bis /4
heute tief in den Köpfen vieler Menschen. Wir, die Betroffenen selbst, nennen diese Formate Poverty Porn. Selbst viele der "besseren", die sich Aufklärung zum Ziel gesetzt haben, leben von der Sensationsgeilheit eines Publikums, das vor allem eins will: Stimulation. /5
So ein Selbstexperiment, wie du es vorhast, könnte auch sehr leicht Teil einer solchen Poverty Porn-Sendung sein. Die von Armut betroffenen Menschen werden aber seit jeher in solchen Formaten nur verschaukelt. So empfinden sie auch dein Experiment als übergriffig. /6
Kommen wir aber nun zu den Fallstricken. Diese speisen sich vor allem aus einem Problem: Armut ist ein Zustand, der vor allem über lange Zeiträume belastet, ja, diese Belastung wächst mit zunehmender Zeit. Jemand, der gerade seine Arbeit verloren hat und ALG I bekommt /7
ist in der Regel weniger belastet, als ein Langzeitarbeitsloser. Denn: die Geräte in der Wohnung sind sehr wahrscheinlich intakt, er hat Vorräte im Haus, ausreichend intakte Kleidung etc.
Die Zermürbung kommt mit der Zeit. Die Spülmaschine, die kaputt geht und nicht oder nur /8
billigst ersetzt werden kann. Das Hemd, dem der oberste Knopf fehlt. Die Jeans mit dem Loch im Schritt, die aber erst im nächsten Sale ersetzt werden kann. Die Gewürze, die langsam aber sicher ausgehen.
Diese schleichende Zermürbung kann ein zeitlich so eng begrenztes Projekt /9
unmöglich abbilden. Mehr noch, kein Mensch in Hartz IV-Bezug gibt sein Geld haargenau nach Regelsatz aus. Es wird stetig jongliert. Geld für Mobilität fließt in die neue Billigjeans, Geld für Essen in die Klassenfahrt für die Tochter usw. Diesen Prozess stetiger Jonglage, /10
die ständig stressende Aufmerksamkeit, die er erfordert, das Wissen, das ein Fehler in der Kalkulation dich am Monatsende teuer zu stehen kommt, kann dein Projekt nicht abbilden.
Und dann kommt noch ein Faktor dazu: die Zeitbegrenzung. Genauer: dein Wissen um diese. /11
In einer Folge von Raumschiff Voyager versucht der Doktor (❤️) mit Hilfe einer künstlichen Erkrankung zu beweisen, dass ein Schnüpfchen nicht so schlimm sei. Er hat diese für eine Woche /12
programmiert. Er weiß also, dass sein Zustand des Leidens in absehbarer Zeit endet, mehr noch, er kennt den Termin. Zu wissen, wann ein unangenehme Phase endet, macht sie psychologisch erträglicher.
Armutsbetroffene wissen aber in der Regel nicht ob und wann ihr Zustand /13
wieder besser wird. Da die vulgärliberale Erzählung "Wer will kann ja" nachweislich falsch ist (Empirie ziemlich eindeutig) stellen sie oft fest, wie sie bei ihren Bemühungen vor eine gläserne Wand nach der nächsten rennen. Die Frustration wächst und schlägt sich /14
unterschiedlich bahn. Viele Betroffene werden psychisch krank.
Dein Experiment kann das nicht abbilden. Was es aber wahrscheinlich zeigen wird: unter den Idealvoraussetzungen, die bei dir wahrscheinlich vorherrschen, wird die Ernährung mit dem Hartz IV-Regelsatz /15
schwierig, aber machbar. Da aber all die genannten Faktoren und noch mehr bei dir nicht gegeben sind, kann das Ergebnis nur verfälscht sein. Ich bitte dich also, dass du das auch so kommunizierst, wenn du dich von dem Projekt schon nicht abbringen lässt. Zwangsläufig werden /16
die Sozialdarwinisten deine Erkenntnisse trotzdem für ihre Diskursverzerrung nutzen wollen. Dämm den Schaden also bitte ein, so gut es geht.
Ich möchte dich und deine Intentionen mit diesem Thread nicht angreifen, oder herabsetzen. /17
Danke an #StarTrek Voyager und an das medizinisch-holographische Notfallprogramm by @RobertPicardo :)
Ein Grund für zerklüftete Lebensläufe im Niedriglohnsektor sind auch die unseriösen Praktiken von Unternehmen.
Aktuell suche ich schon wieder eine neue Stelle. Warum? Mein Unternehmen ist (mal wieder) mitarbeiterfeindlich. Ein 🧵
Themenkomplex 1: Urlaub
Urlaub wird nach Kontingenten vergeben. Diese werden täglich neu berechnet. Das heißt, dass alle Mitarbeiter ihren Urlaub gestückelt nehmen. Mal zwei Tage hier, mal einen Tag dort. Urlaub am Stück muss mühsam verhandelt werden. /2
Es kann immer mal sein, dass bestimmte Zeiten für Urlaub gesperrt sind, oder nur eine begrenzte Zahl an Ausfällen zulassen. Das ist nachvollziehbar. Das aber für jeden Tag neu auszurechnen und Urlaubsplanung unmöglich zu machen, ist hart unseriös. /3
Die oberen 10 Prozent sind für den Großteil der CO2-Emmissionen verantwortlich.
Im Diskurs wird die Verantwortung aber gern verschoben. #IchBinArmutsbetroffen in D zählen zu den globalen 10 Prozent. Dennoch tragen sie so gut wie keine Verantwortung für die desaströse Lage. Ein 🧵
Es passiert immer wieder. Weist man auf die Verantwortung der Reichsten an der #Klimakatastrophe hin, kommt jemand, meist aus dem liberalen oder konservativen Spektrum, und verweist darauf, dass die oberen 10 Prozent ja die gesamte westliche Welt seien.
Das ist ein Trick. /2
Ja, es stimmt. Auch Menschen in #Armut in Deutschland stoßen zu viel CO2 aus. Das hat aber weniger mit unserer Lebensweise sondern mit unserem Anteil an der Infrastruktur zu tun. /3
Ich hasse meinen Job. Bzw., wäre er auskömmlich bezahlt, könnte ich ihn noch leicht als notwendiges Übel betrachten.
Auf der anderen Seite mache ich ihn leider gut. Ich bekomme ständig gute Bewertungen, bin gut in der Zeit und präzise.
Warum also werde ich nicht /1
auskömmlich bezahlt?
Zum einen ist da natürlich das Offensichtliche. Wir haben zwar Fachkräftemangel, aber in diesem Sektor ist er noch nicht angekommen. Man würde mich jederzeit durch einen schwächeren Mitarbeiter ersetzen, um Geld zu sparen. Denn das ist /2
immer die Priorität.
Dann kommen noch die internen Trick-Strukturen hinzu. Wie immer sind die vom System geforderten Spitzenleistungen unerreichbar, oder nahezu unerreichbar, weil sich die Parameter "Genauigkeit", "Freundlichkeit" und "Zeitdruck" widersprechen. /3
Klassismus ist Teil meines täglich Brot. Als Telefonsekretär, der Menschen am Telefon abfängt und ihnen Fragen zu ihrem Anliegen stellt, werde ich täglich mehrfach diffamiert und beleidigt. Ein kurzer 🧵 /1
Viele erachten meine Arbeit als bestenfalls lästig. Um mit möglichst wenig Aufwand an mir vorbeizukommen, stellen sie meine Arbeit als unwichtig und minderwertig dar. Die Strategien, die sie dafür nutzen sind: /2
Empörung: "Wie kann sich der kleine Sekretär erdreisten, mich nach meinem Anliegen zu fragen?"
Autortät: "Ich gebe Ihnen meine Daten nicht! Stellen Sie mich durch."
Beleidigung: "Sie sind meine Zeit nicht wert." /3
Der maßgebliche Indikator, der Liberalismus definiert, wird von Vulgärliberalen nicht verstanden: /1
Freiheit bedeutet nicht, dass du alles erreichen kannst. Sie bedeutet nur, dass du im Rahmen deiner Möglichkeiten frei agieren kannst. /2
Je begrenzter der Rahmen, desto weniger Freiheit genießt du. Und entgegen dem Glauben von Vulgärliberalen ist es weniger der Staat, der unfrei macht. Sie und die Kaste, die sie vertreten sind es, die unfrei machen. /3
Der verehrte Doktor scrollt also durch den Hashtag und sieht diese Wishlist. In seinen Synapsen blitzt es, die innere moralische Stimme, ich stelle sie mir gern in Gestalt eine schwäbischen Hausfrau vor, hebt den Zeigefinger und sagt: "Des darf abr ned sai!"
Armutsbetroffen = selbst schuld = kein Anspruch auf Teilhabe
Nur durch diese Gleichung lässt sich diese Reaktion erklären.
Diese Gleichung ist falsch.
Nicht ungenau, nicht unterkomplex, sie ist falsch.
Es ist ein moralischer Reflex.