Warum ich gegen Sanktionen in der Grundsicherung bin:
Sanktionen prägen immer das gesamte System.
Sanktionen definieren "Fehlverhalten" und lenken es in "gewünschtes Verhalten".
Die Norm gestaltet dabei derjenige, der über die entsprechende Macht verfügt.
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In der Grundsicherung ist das "Fehlverhalten" aus psychosozialer Sicht häufig kein Fehlverhalten. IdR lassen sich gewichtige Gründe finden.
Das "gewünschte Verhalten" hingegen kann aus psychosozialer Sicht mittel- bis langfristig fatale Folgen für den Menschen haben.
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Die Strafe für "Fehlverhalten" fällt dabei gravierend aus.
Sanktioniert zu werden bedeutet: Flaschen sammeln, andere um Hilfe bitten, Verschuldung, weniger Essen oder sogar Stromsperren bzw. Wohnungsverlust, es bedeutet Scham, Wut, Hilflosigkeit, Kontrollverlust, Angst.
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Sanktionen in dieser Härte sind ein hervorragender Nährboden für dysfunktionale Bewältigungsstrategien und psychische Erkrankungen.
Besonders betrifft das Menschen, die schon zuvor innerhalb von Macht- und Angstsystemen zB Traumafolgestörungen erlitten haben.
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Warum Sanktionen auf das gesamte System wirken, kann man sich vorstellen wie einer Schule. Wenn der Prügelstock auf dem Pult liegt, beeinflusst das das Verhalten aller Schüler und Lehrer. Der Prügelstock erlaubt und erfordert das Angstsystem - und kein Kooperationssystem.
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Deswegen werden wir das System "Hartz IV" erst überwunden haben, wenn wir auf Kooperation, gute Beratung & Vermittlung, Menschenverstand, Beziehung setzen - statt auf Strafe und Sanktion.
Vorhin gelesen, die Statistiken der Frauenhäuser würden doch zeigen, wer die Täter sind, denn da seien ja fast nur Frauen mit Migrationshintergrund. Dazu etwas Hintergrundwissen von mir, die ich lange für Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, gearbeitet habe:
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Also erstmal ja. Auch zu uns flohen Frauen "mit Migrationshintergrund" relativ häufig. Das sagt nichts darüber aus, wer der Täter ist. Denn das sind nicht selten auch deutsche Männer, die sich Frauen aus den bitterärmsten Ländern "holen" & dann nicht grade gut behandeln.
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Das Stichwort ist bitterarm > das ist der Indikator für den Aufenthalt im Frauen-und Kinderschutzhaus und nicht der "Migrationshintergrund".
Im Frauenhaus lebten Frauen & Kinder, die bitterarm waren & kaum materielle und soziale (z.B. Freunde, Familie..) Ressourcen hatten.
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Als ich eine junge Frau war, arbeitete ich als Assistentin für eine Personalberatung. Wir waren zwei Assistentinnen und 8 Personalberater. Grossraumbüro. Sexuelle Grenzüberschreitungen an der Tagesordnung.
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Damals wurde das AGG ins Leben gerufen, wir mussten geschlossen in eine Schulung und unser GF schickte uns mit den Worten „jaja, ihr geht da jetzt hin, aber hier wird weiter diskriminiert, ist das klar?!“ und so war es. Niemand konnte ihnen was.
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Meiner Kollegin und mir ging es Tag für Tag schlechter, wir telefonierten bald jeden Abend um uns zu beruhigen. Als sie mit dem GF auf eine Dienstreise musste, wurde er im Auto und im Hotel "übergriffig" (nettes Wort für das, was er tat).
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Als ich heute morgen wieder den Begriff der „sozialen Hängematte“ las, weckte das Erinnerungen an 2012, als Gauck Bundespräsident & dafür kritisiert wurde, diese Kampfrhetorik leichtfertig zu verwenden. Ich arbeitete damals für einen Bildungsträger mit erwerbslosen Menschen.
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Diese Menschen waren gezeichnet. Vom Leben, von Krankheiten, von Gewalt, von all den Härten die Armut mit sich bringt. Unter ihnen waren Mütter, Väter, Alleinerziehende, Witwen die alles taten, damit ihre Kinder es einmal besser hatten. Die gute Eltern waren.
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Die nur wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt hatten, der sie ohnehin nur verheizen und wieder ausspucken wollte. Der Niedriglohnsektor war damals noch brutaler als heute und hat so manche Erwerbsbiografie endgültig zerstört. Dafür übernahm nur niemand die Verantwortung.
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Ich bin nicht mehr sooo häufig in der Beratung tätig, aber in dieser Woche hatte ich mal wieder ein Beratungs-/kennenlerngespräch. Und eine Sache wiederholt sich in fast allen Gesprächen mit armutsbetroffenen Menschen bzw. Menschen die sich in Notlagen befinden:
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Wenn diese Menschen von ihrer Situation erzählen, erklären sie fast immer „ich hätte dies/das besser machen sollen, ich war vielleicht nicht motiviert genug, nicht gut genug, nicht klug genug, zu unaufmerksam, ich habe alles falsch gemacht, ich war schuld“.
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Dabei sind das Menschen, die sich aus den tiefsten Krisen herauskämpfen, die krank sind/waren, die wahnsinnig schlechte Startbedingungen im Leben hatten, die Gewalt erlebt haben, die Kinder groß gezogen, prekäre Beschäftigungen durchgestanden haben (…).
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Im Frühling war ich in einer Ausstellung über Jainismus, einer kleinen indischen Religion, die in mir noch nachwirkt – ganz besonders, wenn wir über unsere Lebensweise, Armut, Klima und Ressourcen sprechen.
Zwei Paradigmen des Jainismus sind Gewalt- und Besitzlosigkeit.
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Diese Paradigmen in ihrer Reinform leben die Mönche & Nonnen. In der Ausstellung wurde in Filmen das Leben dieser Menschen gezeigt – beeindruckend. Nach unseren Maßstäben leben sie ein Leben voller Einschränkungen und Verzicht. Gleichzeitig wirken sie tief zufrieden.
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Den „normalen Gläubigen“ im Jainismus ist bewusst, dass sie kein absolut gewaltfreies Leben führen können.
Daher entscheiden sie sich, so gewaltfrei wie möglich zu leben. Sie konsumieren z.B. wenig und bewusst, leben vegetarisch, besitzen so wenig wie möglich, usw.
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Aus aktuellem Anlass:
Meine erste Ausbildung absolvierte ich Ende der 90er bei einer Krankenkasse. Uns wurde in der Theorie beigebracht, wie wichtig das Solidaritätsprinzip ist, für die Gesellschaft, aber auch als Abgrenzung zu den großen Konkurrenten - den Privaten.
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Ich war begeistert. Von der Idee der Solidarität. Wie wunderbar.
Doch dann kam die Praxis. Einen Tag vergesse ich bis heute nicht: Eine alte Dame kam in die Geschäftsstelle mit einem Rezept für Hilfsmittel, die sie dringend brauchte. Es wurde abgelehnt.
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Am selben Tag kam ein junger Familienvater mit einem Privatrezept und drohte "wenn ihr das nicht übernehmt geh ich halt in die Private". Der Geschäftsstellenleiter genehmigte. Ich war verstört.
Das war doch keine Solidarität. Sondern Wettbewerb.
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