Anna Vero Wendland Profile picture
Apr 30 32 tweets 6 min read Twitter logo Read on Twitter
Ein #Tschernobylthread. Die gerade laufende @ZDF-Doku, bei der ich beratend mitgearbeitet habe, warf einige Fragen auf, die wie immer kompliziert sind. Hier versuche ich eine Antwort, die nicht zu technisch wird. zdf.de/dokumentation/…
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Die Frage: War das nun menschliches Versagen oder ein schlechter Reaktor? In meiner Habil (die den Autoren der Doku vorlag) habe ich eine „soziotechnische“ Unfall-Analyse von Tschernobyl gemacht. In diesem Ansatz gibt es eine Maschinen-, eine Norm- & eine Human Factor-Ebene.
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Ein KKW ist ein soziotechnisches System, in dem die Handlungsträger Mensch (das Personal) & Maschine (hier: der RBMK) innerhalb eines Normengerüsts agieren, das von der menschlichen Kultur (zB der Art & Weise, Entscheidungen hierarchisch oder autonom zu organisieren -
3/29 KKW Smolensk-1 und -2. Die ...
oder Hierarchien zu unterlaufen) und von geschriebenen Normen (zB das kerntechnische Regelwerk, das Betriebshandbuch) festgelegt wird. Wenn man diese Ebenen integriert betrachtet, kann man Ursachen (root cause) & beitragende Faktoren (contributors) unterscheiden:
4/29 Soziotechnik, menschlicher ...
1) root cause: Konstruktive (Abschaltsystem) & Auslegungsmängel (Kernauslegung / positiver Void-Koeffizient, Reaktorschutz) des RBMK, die den Reaktor in bestimmten seltenen Betriebszuständen instabil machten & sichere Unterkritikalität nicht in jedem Zustand gewährleisteten.
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Auch war für solche Umstände nicht immer einen automatischer Reaktorschutz-Eingriff vorgesehen. All das war übrigens ein Verstoß gegen das damals in der Sowjetunion geltende kerntechnische Regelwerk, aber die Mängel wurden falsch eingeschätzt o heruntergespielt.
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2) contributor Mensch: Operator bringt mit Bedienungsfehler den Reaktor in instabilen Zustand im Schwachlastbereich (ein inhärenter Mangel des RBMK), der zum Ausgangspunkt der Unfallsequenz wird. Er würgt den Reaktor fast ab. Um ihn wieder hochzuziehen,
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zieht er fast alle Steuerstäbe auf Obere Endstellung, was aber nur möglich ist, weil keine Reaktorschutzfunktion (< Stab-min im Kern = Reaktorabschaltung) ihn daran hindert. Damit bereitet er d Feld f eine besonders starke Auswirkung eines Nebeneffektes des Abschaltsystems,
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das wegen seiner hybriden Konstruktion aus Absorber- und Moderatorteil zu positiven Reaktivitätseffekten in der unteren Reaktorhälfte beiträgt - *wenn* alle Stäbe aus OE eingeworfen werden. Dh der Faktor Mensch bringt den Faktor Konstruktionsmangel nach vorne.
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3) contributor Norm: ein Normsystem der Befehls- und Gehorsamskultur, der Kompartmentalisiering und Geheimnistuerei verhindert, dass Entscheidungen kritisch hinterfragt werden & das Wissen über die Schwächen des RBMK, das bei Atomaufsicht und Konstruktionsinstituten
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bekannt ist, nach unten zu d Schichtmannschaften durchgestellt wird, die die Anlage fahren. Ein BHB hat Grauzonen gerade noch erlaubter Schalthandlungen, die d Reaktorfahrern trügerische Sicherheit verschaffen.
Es gab auch direkte Verstöße (Absperrung d Notkühlsystems zur
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Verhinderung unerwünschter Kalteinspeisung beim Test; Zuschaltung aller 8 Hauptkühlmittelpumpen), aber die hatten keinen Beitrag zur Unfallsequenz. Sie waren nur ein Symptom für die Sicherheitskultur des Nichthinterfragens von Vorgesetzten & insofern von Bedeutung.
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Man kann die contributor-Kreise auch weiterziehen und sagen, ein Beitrag war auch die sowjetische Mangelwirtschaft, die einen notorischen Strommangel hatte, weswegen die Kraftwerke unter der Knute des Lastverteilers standen.
13/29
Das wiederum bedeutete, dass der im Abfahrprozess in die Revision befindliche Block Tschernobyl-4 für einen Tag ungeplant auf 50% Leistung gehalten wurde, was wiederum bedeutete, dass nicht die eigentlich dafür vorgesehene Schicht den Testlauf für die Notstromversorgung
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durchführte, in dessen Rahmen der Unfall geschah. Daher saß in der Nachtschicht des 26.4. 1986 ein unerfahrener Reaktorfahrer am Pult, dem das Malheur des Leistungseinbruchs passierte, mit dem die Unfallsequenz begann.
15/29
In 🇩🇪KKW wird die Anlage für die Revision aus d Lastverteilung abgemeldet, dh der LV kann keine Eingriffe in den Abfahrprozess machen; auch im Leistungsbetrieb liegt die Letztentscheidung, ob die Anlage auf Anforderung Lastfolge fährt o nicht, immer bei der Schichtleitung.
16/29
Die Frage „menschliches Versagen oder schlechte Maschine?“ kann also gar nicht so eindeutig beantwortet werden, man muss eine Systemanalyse machen, und hier kann man konstatieren: Tschernobyl-4 ist am 26.4.86 als soziotechnisches System „umgekippt“,
17/29 Oleksij Breus, Der Untergan...
weil zu viele Stressfaktoren auf ihm lagen. Doch die sowjetischen Behörden wollten diesen Eindruck, es könne am System liegen, vermeiden. Daher wurde alle Schuld auf das angebliche menschliche Versagen, ja sträfliche „Herumspielen“ des Personals am Reaktor geschoben.
18/29
So wurde es auch der IAEA übermittelt, und die westlichen Atomlobbies nahmen das zum Ausgangspunkt ihrer Behauptung, Tschernobyl sei ein Unfall des Sozialismus gewesen, wo mangelhafte Ausbildung und schlechte Maschinen die Regel seien.
19/29
Erst 1990 bewertete eine weitere sowjetische Untersuchungskommission den Unfall neu - und richtig - in der oben dargestellten Weise: Hauptursache seien Konstruktionsfehler, wegen derer menschliche Fehlhandlungen dann erst die Anlage auf die unsichere Seite kippen ließen.
20/29
Gut konstruierte Kernkraftwerke fallen aber bei Bedienungsfehlern auf die sichere Seite.
Die Version vom „Herumspielen“ einer schlecht ausgebildeten Mannschaft hat sich bis heute besonders im Westen selbst in Fachkreisen gehalten, obwohl sie grob vereinfachend ist.
21/29
Die Reaktorsicherheits-Forschung hat sich aber auf diesem antisowjetischen Bias nicht ausgeruht, sondern sich nach Tschernobyl einige Gedanken über die Interaktionen an der Mensch/Maschine/Norm-Schnittstelle gemacht und danach erst neue Ansätze für eine gute
22/29
Sicherheitskultur entwickelt, zu der eine selbsthinterfragende Haltung, eine Hinterfragung von Autoritätsurteilen genauso gehört wie das Konstruieren von fail-safe-Systemen.
23/29
Man kann übrigens konstatieren, dass auch die „westlichen“ Reaktorunfälle TMI und Fukushima soziotechnisch bzw envirosoziotechnisch erklärbar sind.
24/29
In TMI-2, einem Druckwasserreaktor, gab es wie in Tschernobyl Schwächen der Anlage in Verbund m menschlichen Fehlern: defektes Druckhalter-Abblaseventil, dessen Zustand (Hängenbleiben in AUF-Stellung als Ursache des Kühlmittelverlusts) nicht erkannt wurde, weil die Anzeige
25/29
nur den Zustand des elektromagnetischen Antriebs, aber nicht die reale Endstellung der Armatur abbildete, und weil die Reaktorfahrer den zweiten Indikator, die Temperatur in der Abblaseleitung, als eine übliche Undichtigkeit interpretierten.
26/29
Und warum taten sie das? Weil das Abblaseventil anders als bei uns ein Stellglied der Primärkreisregelung war & öfters mal muckte; keine gute Idee bei einem Sicherheitssystem, das eigentlich der Druckabsicherung dienen soll.
27/29
In Fukushima wiederum interagierte eine Systemschwäche der Atomaufsicht, die eine zu schwache Flutauslegung der Anlage aus veralteter Genehmigungspraxis nicht sanktionierte, mit einer schlechten Betriebskultur und
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Defiziten b anlageninternen Notfallschutz. Daher war d Anlage nicht f d in d Region vorkommenden Tsunami-Höhen abgesichert, vitale Systeme wie d Notstromversorgung waren nicht flutgesichert. So gesehen war Tschernobyl überall, aber anders, als die Anti-AKW-Bewegung meint.
29/29 Ich 1991 bei meinem Besuch ...
Nachtrag zum Tweet 27/29 über TMI-2: 1 grober Verstoß kam dazu, nämlich eine versehentlich nach Revision liegengebliebene Absperrung des Dampferzeuger-Notspeisesystems, das, wenn verfügbar, das System vor Druckanstieg und Ansprechen des (defekten) Abblaseventils bewahrt hätte.➡️
Man hat daraus in 🇩🇪die Konsequenz gezogen, Schließsysteme für sicherheitsrelevante Armaturen einzuführen. Wer schonmal in einem AKW war: das sind die mit den roten Handrädern. Die werden in Sollstellung verriegelt und den Schlüssel kann man nur dann abziehen. ➡️
Die Schlüssel werden auf der Warte bei der Wache aufbewahrt, dh wenn einer fehlt, wissen wir sogleich: Armatur checken! Vorm Anfahren gibt es nicht nur das Abarbeiten der üblichen kilometerlangen Armaturen-Stellungslisten, sondern auch Schlüssel-Appell. KKW Grohnde, Mai 2021, bei ...

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Apr 30
#Atommüllthread, hochaktiv. Auf vielfältigen Wunsch der Werktätigen wiederhole ich meinen RT in präzisierter Form: das 👇🏼ist der *abgebrannte Kernbrennstoff* der globalen Kernenergiegeschichte. Er würde in ein Stadion passen. Quelle & kritische Bewertung unter ALT in d BU.
1/11
Ich korrigiere damit meinen vorigen RT, dessen Überschrift von „Abfall“ sprach - weil die Debatte um d hochaktiven Atommüll tobt. Es kommen - in 🇩🇪- noch Behälter dazu, da es uns seit 2005 verboten ist, Atommüllvolumen zu reduzieren, indem wir Brennelemente zur WAA schicken.
2/11
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Apr 25
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1/20
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KGE hatte am 16.04. bei @AnneWillTalk einen ganzen Stapel Unwahrheiten über das Versagen der 🇫🇷AKW aufgetürmt. Unnötig zu erwähnen, dass der Totaleinbruch der 🇩🇪Windstromproduktion in denselben Hitzemonaten sie genausowenig interessierte wie die Top-Performance der 🇩🇪AKW,
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Apr 21
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Der angekündigte Titel 👇🏼war etwas aus der Zeit gefallen, da die Atomkraft in Deutschland derzeit nicht mehr existiert und die einzigen trojanischen Pferde weit & breit der Braunkohlen-Gaul & die Gas-Mähre der Fossilindustrie in den Mauern der Energiewende sind.
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Apr 17
Was als symptomatisch für die 🇩🇪Zustände von dem Atomausstiegs-Theater bleibt:
1) die „Arbeiterpartei“ @spdbt @spdde, die die Kohle 2018 würdig & mit Bundespräsident verabschiedet hat, spuckt den Beschäftigten der AKW mit einem Häme-Plakat zum Abschied ins Gesicht.
2) während ein Appell von Klimaforschern & Nobelpreisträger Klitzing für den Weiterbetrieb weitgehend weggewischt wird, konzentriert sich alle Aufmerksamkeit auf den unseriösesten Atom-Fürsprecher, den opportunistischen @Markus_Soeder, der das Thema für den Wahlkampf missbraucht.
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Apr 14
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