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Ein paar kurze Bemerkungen zur Bedeutung der Grundrechte während der Corona-Krise (Thread).
Was wir, juristisch gesehen, gerade erleben, ist ein relativ extremer Fall von Grundrechtskonkurrenzen: Auf der einen Seite haben wir das Recht auf Leben von ca. 5-10 % der deutschen Bevölkerung. Hinzu kommt das Allgemeininteresse am Funktionieren des Gesundheitsystems.
Auf der anderen Seite haben wir die Grundrechte, in die der Staat im Wege der Schutzmaßnahmen gerade eingreift. Beispielsweise die Freizügigkeit („Recht auf Reisen“, Art. 11 GG), die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) oder die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG).
Diese Interessen stehen miteinander im Widerspruch. Einerseits Menschen, die ein legitimes Interesse daran haben, gesund zu bleiben und weiterzuleben. Andererseits Menschen, die ein legitimes Interesse haben in ihrem Beruf zu arbeiten, für ihre Anliegen zu demonstrieren, etc.
Wie löst man so etwas auf? Rechtswissenschaftlich gesprochen im Weg der „praktischen Konkordanz“: Man sucht nach einem Mittelweg, bei dem von beiden grundrechtlich geschützten Interessen möglichst viel übrig bleibt.
Keines der beiden Grundrechte darf dabei mehr eingeschränkt werden, als dies zum Schutz des anderen Grundrechts notwendig ist.
Und bei keinem der beiden Grundrechte darf der Staat dabei in den sog. Wesensgehalt eingreifen. Das ist der Kernbereich eines Grundrechts, der nicht zur Disposition steht.

de.m.wikipedia.org/wiki/Wesensgeh…
Vorliegend haben wir eine Situation bei der die eine Seite (die des Rechts auf Leben) so existenziell und massenhaft beeinträchtigt ist, dass sie in der Lage ist, fast jedes Gegeninteresse zu verdrängen. Welches Interesse könnte stärker sein als das Recht auf Leben von Tausenden?
Ein ähnlich starkes Gegeninteresse ist kaum vorstellbar. Vorliegend sehe ich deshalb auch kaum Maßnahmen, bei denen ich den Eindruck habe, dass sie unverhältnismäßig sind. Unangenehm, ja. Aber kein Grund, jemand anderen (oder sogar sehr viele) sterben zu lassen.
Die verfassungsrechtliche Grenze des Zulässigen ist aber in zwei Fällen erreicht:

1) Wenn eine Maßnahme von vornherein gar nicht geeignet ist, ihr Ziel (Leben zu retten) zu erreichen. Beispiel, die massenhafte Überwachung von Mobilfunk-Ortsdaten: die Daten sind dafür zu ungenau.
2) Und wie erwähnt sind Maßnahmen auch dann unzulässig, wenn dabei in den Wesensgehalt eines Grundrechts eingegriffen wird. Das ist auch dann der Fall, wenn ein Grundrecht faktisch vollständig aufgehoben wird.
Bedenklich finde ich vor diesem Hintergrund Nachrichten, dass selbst Demonstrationen, wo Abstand gewahrt wird, verboten sein sollen und aufgelöst werden. Faktisch ist die Versammlungsfreiheit damit aufgehoben. Ob das geht? Gerichte werden es entscheiden.
Auch einige weitere Themen finde ich kritisch. Aber im Großen und Ganzen ist festzuhalten: Die Grundrechte sind in der aktuellen Situation nicht „aufgehoben“ oder „ausgesetzt“. Sie werden nur von einem anderen Grundrecht sehr weit eingeschränkt.
tl;dr:
1) Dass viele Grundrechte derzeit stark eingeschränkt werden, heißt nicht, dass sie „aufgehoben“ oder ausgesetzt sind. Sie werden von einem anderen Grundrecht verdrängt (praktische Konkordanz).
2) Der Staat darf zur Eingrenzung der Corona-Seuche aber nicht beliebig in Grundrechte eingreifen. Verboten sind ihm vor allem Maßnahmen, die (1) von vornherein ungeeignet sind, sowie (2) Eingriffe in den Kernbereich von Grundrechten.
Und noch einmal ein kurzer Nachtrag, weil ich immer wieder lese, dass Menschen von einem "Notstand" sprechen:

Es gibt diverse Regelungen im Grundgesetz und auch in anderen Gesetzen für Fälle des "Notstands", z.B. für Kriege (sog. "Notstandsverfassung")

Diese Regelungen erlauben z.B. eine abgekürzte Gesetzgebung, einen Bundeswehr-Einsatz im Inneren oder manchmal zusätzliche Eingriffe in Grundrechte.

de.wikipedia.org/wiki/Notstands…

Nach meinem Kenntnisstand wurde bislang KEINE dieser Vorschriften genutzt.
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