Wie zu erwarten wächst bei der neuen Corona-Welle der Widerstand gegen neue Maßnahmen. Jede Gruppe zweifelt den Nutzen der Maßnahmen an, von denen sie beftroffen ist. Wirte und Kneipengänger gegen die Sperrstunde, Urlauber und Hoteliers gegen Beherbergungsverbote.
Was sich jetzt auch rächt ist, dass es seit einem halben Jahr keine Fortschritte bei der Bereitstellung von Daten durch die Gesundheitsämter gibt. Gelegentliche Berichte zeigen, dass es viele Daten gibt, die unter Verschluss gehalten werden und selten Eingang in Berichte finden.
Insbesondere Informationen dazu, wo und wie sich die Leute anstecken, wären für die Begründung von Maßnahmen essentiell, ebenso, welche Infektionen miteinander in Verbindung stehen. Es müsste sogar möglich sein, anhand der Virus-DNA festzustellen, wer wen angesteckt hat.
Was nicht geht ist, dass sich Regierende weiter Maßnahmen aus dem Hintern zu ziehen, ohne diese gut zu begründen. Das mag im Mārz noch ok gewesen sein, aber nach einem halben Jahr ist das nicht mehr gut genug. Gehe davon aus, dass zukünftig mehr Maßnahmen vor Gericht scheitern.
Grundsätzlich kann man wohl sagen, dass jede Einschränkung von Kontakten und Mobilität auch die Verbreitung des Virus einschränkt. Die Frage ist, in welchem Umfang und um welchen Preis, und inwieweit Betroffene zu entschädigen sind, wenn sie durch Maßnahmen übermäßig leiden.
Ich meine damit Maßnahmen, die z.B. Gastwirte wirtschaftlich treffen. Diese wären unangemessen, wenn sich nicht nachweisen lässt, wie viel es bringt. Macht man es dagegen auf Verdacht, ist das allgemeiner Gesundheitsschutz, der nicht allein zu Lasten der Wirte gehen kann.
Was die Politik offenbar nicht auf dem Schirm hat ist, dass, wie Beispiele aus anderen Ländern zeigen, die Maßnahmen auf die zweite Welle auf eine andere Stimmung in weiten Teilen der Bevölkerung stossen.
Die erste Welle war für alle neu, die Maßnahmen aus heutiger Sicht exzessiv, aber in der damaligen Situation alternativlos. Inzwischen wissen wir mehr und können zu Recht erwarten, dass Maßnahmen selektiv und gut begründet erfolgen.
Für die aktuelle Infektionsschutzverordnung in Berlin kann ich keine Begründungen für spezifische Maßnahmen finden. Ich gehe davon aus, dass sich jemand was bei den einzelnen Maßnahmen gedacht hat, aber was, das ist eher unklar und nicht öffentlich dokumentiert.
Eine andere Frage ist auch, was passiert, wenn die Zahlen trotz der Verschärfungen weiter ungebremst steigen. Es wäre ein Indikator dafür, dass die Maßnahmen nicht zielführend sind, aber man wird sie dann wohl eher ausweiten als zurücknehmen.
Ein großes Politikum ist der Anteil der Schulen am Infektionsgeschehen. In Berlin haben in den Altergruppen 5-19 die Infektionen vor den Sommerferien (KW 23-26) zugenommem, sind in dem Ferien runtergegangen und haben seit KW 31 wieder zugenommen.berlin.de/corona/lageber…
Allerdings hat sich seit der KW36 das Infektionsgeschehen in Berlin deutlich auf die Altersgruppe 15-29 konzentriert, so dass es angemessen erscheint, Maßnahmen zu treffen, die besonders auf diese Altersgruppe abzielen.
Ein Grund, warum das Infektionsgeschehen in der Altersgruppe so ansteigt könnte schlicht darin liegen, dass in der Gruppe besonders viele symptomarme Infektionen gibt und viele junge Leute gar nicht merken, dass sie infiziert sind, während sie gleichzeitig kontaktfreudig sind.
Bei benachbarten jungen Altersgruppen kann es auch sein, dass Infektionen unter Geschwistern eine besondere Rolle spielen. Das Lageso müsste es wissen, ob das so ist, aber ich konnte keine Informationen finden, ob das überhaupt jemand untersucht hat.
Die oben verlinkte Seite vom Berliner Lageso berlin.de/corona/lageber… ist deutlich besser, als das, was das RKI anbietet, aber es ist kein Ersatz für die Veröffentlichung von Rohdaten, denn den offiziellen Stellen mangelt es klar an Phantasie und Kapazität, alle Daten auszuwerten.
Wo bleibt eine brauchbare, nachvollziehbare Analyse von Clustern und Infektionswegen? Eine fortlaufende Analyse von Infektionsorten- und Situationen? Analysen zur Dunkelziffer in verschiedenen Altersgruppen? Testzahlen und Hospitalisierung nach Altersgruppen?
Inzidenz nach Berufsgruppen oder bei Schülern, Studenten oder Lehrlingen? Inzidenz nach Wohnverhältnissen, Einkommen und Wohnfläche? Inzidenz nach Familienstand? Inzidenz nach Verkehrsmittelnutzung? Warum gibt es all das nach 9 Monaten nicht?
Ok, es ist eigentlich normal, dass Politik und Verwaltung fast immer zu spät sind, weil sie halt vor allem auf Verhältnisse reagieren und meist erst dann reagieren, wenn etwas überhand nimmt, und das ist auch gut so, aber dass muss und darf nicht für Informationen gelten.
Und ja, Informationen allein nutzen wenig, wenn sie nicht aufbereitet und veröffentlicht und diskutiert werden, aber es kann nicht schaden, die Situation so gut wie möglich zu beleuchten, im Gegenteil, es ist Voraussetzung für sinnvolles Handeln.
Und hier sehe ich einfach nicht genug Fortschritte. Von den vor Monaten erhobenen Forderungen von Datenjournalisten wurden kaum welche erfüllt. Die Regierenden brauchen sich daher nicht zu wundern, wenn Akzeptanz von Beschränkungen und die Bereitschaft zur Einhaltung sinken.
Ja, mehr Daten und Begründungen werden das Problem nicht lösen, es gibt genug Leute, die alle Fakten ignorieren oder anzweifeln, aber es gibt auch genug Leute, vermutlich mehr, die sich von Fakten überzeugen lassen, und wir werden nicht gerade zuvorkommend behandelt.
Ich habe auch nicht das Gefühl, dass die deutsche Politik die Brisanz der Situation erkannt hat, nämlich, dass die nächsten Monate echt häßlich werden könnten, weil die Solidarität zerbröckelt, weil die Leute merken, dass sie nicht mehr alle im gleichen Boot sitzen.
Daher ist mehr denn je geboten, für einen solidarischen Ausgleich zu sorgen, wenn bestimmte Gruppen hart betroffem sind. Besonders sollte die Politik vermeiden, wie oft üblich diejenigen zu ignorieren, die poltisch ohnmächtig sind und sich nicht wehren können.
Bisher konnten wir in Deutschland eine allzu extreme Polarisierung großer Teile der Gesellschaft vermeiden, aber der Trend ist da, und Corona könnte zu noch viel massiveren gesellschaftlichen Verwerfungen führen, wenn wir nicht aufpassen. Ich hoffe sehr, dass es dazu nicht kommt.
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Hier die Entwicklung der Corona Neuinfektionen in Berlin in den unterschiedlichen Altersgruppen, Stand 10.10.2020. Leider sind die Altersgruppen in den öffentlichen RKI-Daten sehr grob.
Besonders unglücklich ist, dass es nur eine Gruppe 15-34 Jahre gibt, die ein Teil der Schüler umfasst, Studenten und beruftstätige Erwachsene, so dass es nicht einfach ist, daraus klare Schlüsse zu ziehen.
Klar ist, dass sich in Berlin in der Gruppe 15-34 Jahre doppelt so viele Leute infizieren wie in der Gruppe 5-14, die wiederum die 35-59-jährigen als zweitmeist betroffene Gruppe überflügelt haben.
Corona-Update 9.10.2020: Auch in Deutschland gesamt explodieren jetzt die Neuinfiziertenzahlen. (Blaue Treppe 7-Tage Mittelwert) 7-Tage-R um 1,2. Keine Anzeichen für einen Rückgang oder Verlangsamung des Anstiegs.
In den Top-32 Landkreisen jetzt 20 Landkreise mit über 50 Neuinfektionen/100.000 in den letzten 7 Tagen. Berlin-Neukölln jetzt vorne mit 122. Bayern leitet ein Comeback ein, jetzt wieder mit 6 Kreisen in den Top30. Vechta, Hagen und Cloppenburg auf Plätzen 2-4.
Berlin, Bremen, Hamburg und das Saarland weiterhin vorne im Ländervergleich, Berlin und Bremen mit über 50/100.000 Neuinfektionen. In keinem Bundesland gehen die Zahlen zurück. Ostländer sowie Schleswig-Holstein stehen bei den Neuinfektionen noch am besten da.
Wo stecken sich Leute derzeit an? Mehr als 50% in privaten Haushalten. Jeweils 5-10% entfallen auf Job, Heime und medizinische Einrichtungen. Freizeit und Kitas sind mit je unter 5% dabei, der Rest ist „ferner liefen“. rki.de/DE/Content/Inf…
Zu beachten ist, dass hier nur „Cluster“ erfasst wurden, also Geschehen, wo sich mehr als eine Person angesteckt hat, und dass sich das Ausbruchsgeschehen stetig verlagert. Ausserdem kann es regional sehr verschieden sein.
Grundsätzlich scheint es derzeit so zu sein: Einzelpersonen stecken sich *irgendwo* an, bringen den Virus nach Hause und stecken Familie und Freunde an, im Schnitt 3 Leute, wenn sie privat wohnen oder um die 20, wenn sie in einem Heim leben.
Es sieht heute, am 7.10.2020, nicht gut aus mit den Corona-Zahlen, vor allem in Berlin, wo der 7-Tage-Schnitt gerade explodiert und höher ist, als er je war. (Blaue Treppe) 7-Tage-R um die 1,3.
Berlin liegt auch vorne im Ländervergleich, gefolgt von Bremen, Saarland und Hamburg, wobei Berlin als Ganzes kurz davor steht, die 50 Neuinfektionen/100.000 zu überschreiten, was wohl in den nächsten Tagen passieren wird.
Vier Berliner Bezirke überschreiten die Grenze von 50 Neuinfektionen/100.000 bereits deutlich, Neukölln, Tempelhof-Schöneberg, Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg. Neukölln hat sogar mit fast 97,7 Neuinfektionen/100.000 fast das doppelte.
Finde ja ok, die Bundeswehr bei Flutkatastrophen oder so kurzfristig helfen zu lassen, aber wir sind jetzt in Monat 9 der Corona-Pandemie! Da man ja wohl erwarten, dass die Ämter genug Personal rekrutiert haben. Wir haben auch keine Armee aus unbezahlten Wehrpflichtigen mehr,...
... sondern teuer ausgebldete militärische Fachkräfte, von denen die Bundeswehrangeblich nicht genug hat. Wenn die von der Bundeswehr nicht gebraucht werden, sind deren Stellen offenbar überflüssig und können abgebaut werden.
Das alles ist aus meiner Sicht eine teuere politische Show, um die Bundeswehr irgendwie freundlicher aussehen zu lassen, alles auf Kosten der äußeren Sicherheit, der Soldaten und der Gesundheitsämter, die mit einem Haufen fehlqualifizierter Hilfkräfte arbeiten müssen.
Thread: Corona-Update 17.9.2020 für Deutschland (und Berlin): Nachdem die 3. Welle kurz abgeflaut war, steigen die bundesweiten Zahlen seit über einer Woche wieder an, und der 7-Tage Schnitt ist mit ~1500 Neuinfektionen pro Tag so hoch wie seit Mitte April nicht mehr.
Auch ein Blick in die Bundesländer zeigt in allen Bundesländern wieder steigende Fallzahlen. Bayern, Hamburg und Berlin liegen bei der Risikobewertung vorne, gefolgt von NRW und Baden-Württemberg. Alle anderen Länder liegen unter dem Bundesdurchschnitt. (pavelmayer.de/covid/risks)
Der Anstieg scheint auch real zu sein; zwar stiegen die Testzahlen in KW37 auf ein neues Allzeithoch von 1,12 Mio/Woche, allerdings auch die Positivenquote von 0,74 auf 0,86. (rki.de/DE/Content/Inf…) Aktuell haben wir sogar >10.000 neue Infektionen in den letzten 7 Tagen.