Michael Ludwig inszeniert alle Sondierungsgespräche - sogar mit passender Krawatte - gleich. Ein paar Gedanken zur Koalitionsbildung in Wien und warum die Handlungsmöglichkeiten für ihn vielleicht doch etwas kleiner sind, als sie zur Zeit dargestellt werden.

Bitte anschnallen.
Es wird erst die vierte "echte" Koalition in Wien seit 1945. Erst 1996 musste die ÖVP eine Partei in der Regierung einbinden, davor geschah das nur freiwillig. Seither gab es eine Periode Rot/Schwarz und zwei Perioden Rot/Grün.
Exkurs: Seit 1973 bekommen oppositionelle Stadtsenatsmitglieder kein Ressort, werden also "nicht amtsführende Stadträte". Sie gehen bei vollem Bezug spazieren. Einige würden diese Posten gerne abschaffen, eine Verpflichtung ihnen keine Ressorts zu geben, gibt es aber auch nicht.
Die Wiener SPÖ könnte mit jeder Partei im Gemeinderat eine Koalition bilden. Die FPÖ schließt sie aus inhaltlichen Gründen aus, bleiben drei Möglichkeiten mit mehr als 51 Sitzen.

• SPÖ - ÖVP (68 Mandate)
• SPÖ - NEOS (54)
• SPÖ - Grüne (62)
Nur die WählerInnen der Grünen haben eine wirklich eindeutige Koalitionspräferenz, alle anderen eine favorisierte. Aber das ist sehr volatil, auch Schwarz/Grün war am Wahltag im Bund noch nicht die erst gewählte Variante.
Die ÖVP ist, obwohl oder vielleicht gerade weil man lange in Wien eingebunden war und im Bund zusammengearbeitet hat, wohl die unattraktivste der drei möglichen Parteien. Das hat mehrere Gründe:
Atmosphärisches ist bei Koalitionsbildungen meist völlig überschätzt, aber SPÖ und die "türkise" ÖVP können sich einfach nicht leiden. Häupl nennt Kurz "Sozialistenfresser" und das ist noch freundlich im Vergleich zu den Nettigkeiten die sich ÖVP und SPÖ hier täglich ausrichten.
Aber selbst, wenn man das überwindet, bleiben ein paar praktische Hindernisse. Die ÖVP wäre sicherlich der "teuerste" Koalitionspartner. Und das hängt mit der Art und Weise zusammen, wie die Stadtregierung gebildet wird. Sie kann zwischen 9 und 15 Personen umfassen.
Alle Parteien bekommen in der Proporz-Regierung einen Posten. Zur Zeit umfasst die Regierung 12 Mitglieder, die ÖVP würde aber wohl auf einer Vergrößerung auf 13 bestehen, denn dann erhält sie einen Posten mehr. Bei 9 oder 10 Mitgliedern müsste übrigens gelost werden.
Dazu kommt, dass die ÖVP als einziger möglicher Partner über 20% hat und damit wohl auch mehr Mitbestimmung einfordern würde. Die ÖVP verweist darauf, dass man nur mit ihr eine 2/3 Mehrheit im Gemeinderat hätte, aber die ist realpolitisch wenig bedeutend. wienerzeitung.at/nachrichten/po…
Die FPÖ konnte bisher mit ihren 34 Mandaten alle 2/3 Materien verhindern, es war realpolitisch egal. Da das vor allem wichtig ist, wenn der Gemeinderat als Landtag tagt. Nur die Landeskammer ist deutlich weniger relevant als der Gemeinderat. derstandard.at/story/20001205…
Für eine Koalition mit der ÖVP spricht nur der funktionierende Draht zwischen der schwarzen Wiener Wirtschaftskammer und dem Bürgermeister. Warum der abreißen sollte, wenn es keine SPÖ-ÖVP Koalition gäbe, konnte mir aber bisher niemand schlüssig erklären.
Eine mögliche Koalition mit den NEOS wurde in den letzten Tagen zum medialen Liebkind. Aber es bestehen enorme inhaltliche Hürden zwischen Rot und Pink. Nehmen wir zwei Herzensthemen der beiden Parteien: Transparenz und Wohnen.
Die NEOS zum Thema Wohnen: "Eingriffe in den freien Markt sind für uns der falsche Weg"
Die SPÖ zum Thema Wohnen: "Diese Errungenschaft werden wir gegen die Begehrlichkeiten
von Spekulant*innen und ihrer politischen Lobbys konsequent verteidigen."
Die NEOS fordern eine Halbierung der Parteienförderung in Wien, das käme der SPÖ im wahrsten Sinne des Wortes sehr teuer. 6 Millionen Euro. Die Parteienförderung machte 2018 80% der Einnahmen der SPÖ Wien aus.
Eine SPÖ-NEOS Koalition wäre auch in Fundamentalopposition zur Bundesregierung, der Konflikt Bund-Wien würde stärker. Noch haben SPÖ, FPÖ und NEOS eine knappe Mehrheit im Bundesrat, nach der Landtagswahl in OÖ 2021 ist die aber wohl weg. Dann könnte Türkis-Grün durchregieren.
Bleiben die Grünen. Inhaltlich ist sich die SPÖ mit keiner anderen Partei so nahe. (Hier Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik von @laurenzennser). Die großen Konfliktpunkte Wahlrechtsreform und Öffi-Ticket sind aus dem Weg geräumt und dennoch stottert der Motor.
Die SPÖ hat geschickt, gleich nach der Wahl indirekt versucht eine Personaldiskussion bei den Grünen zu starten. Denn die grüne Verkehrspolitik irritiert viele in der SPÖ, vor allem jene die stärker geworden sind. Sie ist bei der Gemeinderatswahl vor allem am Stadtrand gewachsen.
In vielen anderen Fragen könnte man das Programm der letzten 10 Jahre wohl einfach fortschreiben, der große Knackpunkt der rot-grünen Verhandlungen wird das Verkehrsthema. Dazu kommt, dass die Grünen nun Anspruch auf zwei Stadträte und damit zwei Ressorts haben.
Rot-Schwarz wäre eine riesige Überraschung und eine Belastung für die Partei, für Rot-NEOS müssten die beiden Parteien große inhaltliche Sprünge machen. Rot-Grün wäre inhaltlich einfacher, aber hier muss die SPÖ bei den Ressorts nachbessern.
Michael Ludwig hat zwar soviel Auswahl wie noch nie, leicht wird die Koalitionsbildung dennoch nicht.
Eine andere Meinung? Alles Unsinn? Please discuss:
Erratum: Der Bezug der "nicht amtsführenden" Stadträte ist geringer, nicht wie oben behauptet "voll".

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16 Mar
So. Mein Auto ist hin. Während ich auf den Abschleppdienst vor dem AKH warte, ein paar Background Infos zur glaube ich - sehenswerten - Geschichte und dem Interview mit dem Landesrat in der ZiB 2 zu Ischgl/St.Anton. tvthek.orf.at/profile/ZIB-2/…
Die Skigebiete Lech und St. Anton sind eng verbunden, durch die sogenannte Flexenbahn. Dadurch kamen bis vergangenen Freitag (!) jeden Tag 3.000 bis 4.000 von St. Anton nach Lech, 1.000 bis 1.500 von Lech nach St. Anton. Teile von St. Anton stehen unter Quarantäne. Lech nicht.
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9 Oct 18
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18 May 18
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