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22 Oct, 28 tweets, 5 min read
(thread) Lasst uns mal über #Lockdown sprechen. Was können sie, und was können sie nicht? Als soziale Technologie ist der Grenznutzen stark abnehmend.
tl;dr: #Lockdowns dürfen immer nur zu Besuch sein. Sie dürfen niemals einziehen.
Wir können davon ausgehen, dass die Low Hanging Fruits schon alle gegessen wurden.
Keine Jodelwettbewerbe mehr, wer diszipliniert ist, trägt schon ständig #Masken, überall sorgt Plexiglas für Atemraumvereinzelung und Desinfektionsmittel benetzen rhythmisch alle relevanten Oberflächen.
Außerdem isolieren sich die meisten Menschen konsequent, sobald sie #Symptome haben.
Jede weitere Maßnahme wird nötig, wenn das nicht mehr reicht, und sie optimiert von hier aus weiter.
Alle Früchte hängen hoch, und Maßnahmen werden auf Widerstände treffen und müssen sie überwinden, um zu wirken. Denn wären Leute und Unternehmen in der Lage und Willens, sie umzusetzen, wären sie vermutlich schon umgesetzt, freiwillig.
Es gibt hier natürlich unzählige Aspekte, aber zwei möchte ich jetzt mal genauer anschauen.
1.) Positive Selektion und abnehmender Grenznutzen; und 2.) Defektionsrate
1.
Positive Selektion und abnehmender Grenznutzen
Normalerweise werden von 1.000 Leuten etwa 100 zu Superspreadern (Rechnerisch, Studien sagen hier 80 bis 180). Wir wissen aber vorher nicht, welche. Deshalb müssen wir für alle locken.
Aber die Eigenschaften, die die Superpreader zu Superspreadern machen, sind trotzdem schon angelegt. Es sind Menschen, die in der Zukunft symptomfrei und vermutlich ohne Maske auf andere Menschen treffen.
Nennen wir dieses Set von Eigenschaften mal "gesellig".
Die Motivationen können ganz unterschiedlich sein: Geldnot, Notfälle, Zusammenbrüche, Angehörige versterben, Druck im Job, Trennungen, neue Liebe, Coronaleugner, Ausnahmsweise mal einen trinken gehen, ect.
Dieses Set und die Leute erkennen wir aber vorher nicht - immer noch kein Orakel hier - aber es existiert trotzdem. Auch bei einem Lockdown bleiben diese Menschen "gesellig", evtl. sogar stärker, da Geldnot oder Druck zunimmt.
Während ein Lockdown von den allgemeinen 1.000 Leuten etwa 80% neutralisiert, wird ein Lockdown von den 80 Leuten, deren Voreinstellung "gesellig" ist, vermutlich nur 50% erwischen.
Je härter die bereits bestehenden Maßnahmen sind, desto gravierender ist diese Diskrepanz.
Wenn wir beispielsweise von diesen 920 bereits 740 durch bestehende Maßnahmen neutralisierten und auch 40 der Geselligen, verbleiben 180/40. Eine weitere Maßnahme, die dann 50% der 180 neutralisiert, wirkt bei den Geselligen ggf. nur mit 25%. Es bleiben 90/30.
Wir sehen: Harte Maßnahmen haben 880 Leute neutralisiert, das sind 88%. Aber sie haben nur 50 gesellige neutralisiert, das sind 62,5%. Und die verbliebenen Infizierten bestehen zu 25% aus Superspreadern und nicht mehr zu 8%.
Das sind alles fiktive Zahlen - aber der Effekt ist real, wir wissen nur nicht, wie groß.
Das heißt auch: WENN es einen Raum gibt, in dem - entgegen der Maßnahmen - gesellig gesungen wird, dann ist die Wahrscheinlichkeit höher als sonst, dass in diesem Raum #Superspreader in Spe sind. Je härter die Maßnahmen, desto stärker ist diese positive Selektion.
Es existieren weniger Räume, aber alle verbliebenen Räume werden viel gefährlicher.
Und das heißt: Die Geschwindigkeit der Verbreitung der Pandemie verlangsamt sich immer weniger bei jeder neuen Maßnahme.
Denn es gibt ja noch einen Effekt: Die Wahrscheinlichkeit, in einem beliebigen Raum auf einen aktiven Superspreader zu treffen, steigt an.
Aber auch die Wahrscheinlichkeit, dass dieser aktive Superspreader auf einen anderen Superspreader in spe trifft - eine gesellige Person - steigt ebenfalls an.
Wenn die Freiwilligkeit und Sanktionslosigkeit aus der Gleichung entfernt wird, kann dem entgegen gewirkt werden.
Daher müssen Lockdowns entweder hart und zwingend sein, oder sie müssen weich und freiwillig sein.
2. Desertationsrate Unabhängig von der Geselligkeitsquote und unabhängig vom Zwangsniveau der Maßnahmen gibt es für jede Person einen endlichen Vorrat an Disziplin. Egal wie hoch er ist, er ist immer endlich.
Aus psychologischen, aus finanziellen, aus sozialen oder politischen Gründen kommt irgendwann für jede Person der Punkt, an dem sie sich entscheidet, jetzt mal ausnahmsweise nicht entsprechend der Vorgaben zu leben.
Und irgendwann kommt auch der Punkt, an dem sie grundsätzlich beginnt, nur einen Teil einzuhalten.
Wenn der Sinn von Maßnahmen in Frage gestellt wird oder Notsituationen zunehmen schnellt der Punkt nach vorne und das Verhalten tritt früher ein.
Paradoxerweise sorgen Lockdowns selbst dafür, dass sie schwerer einzuhalten sind.
Aber die Rate schnellt insbesondere dann nach vorne, wenn Maßnahmen kein erwartbares Ende finden. Menschen könnten nahezu alles ertragen, wenn es planbar ist.
Wir kennen das alle: Wenn die Schwiegereltern zu Besuch kommen, kommen wir mit allem zurecht, wenn sie nach einer Woche wieder fahren.
Wenn sie aber kommen und auf unbestimmte Zeit bleiben, dann würden wir von Beginn an Regeln einführen, die ganz andere sind als die bei Besuch.
Wenn eine Fastenzeit von 40 Tagen beginnt, können viele sich daran halten.
Aber wenn sie auf unbestimmte Zeit angelegt ist, werden viele heimlich naschen gehen.
Je weniger klar beobachtbar der Nutzen, und je weniger endlich die Dauer desto mehr Leute werden (spieltheoretisch "to defect") desertieren.
Lockdowns dürfen immer nur zu Besuch sein. Sie dürfen niemals einziehen.
Das bedeutet: Maßnahmen müssen endlich, verständlich und unfrei sein. Und sie sollten sich darauf konzentrieren, wie wir gesellige Menschen überzeugen können - die anderen haben wir eh schon.

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