Klarstellung: Nachdem mir viele Leute eine Täter-Opfer-Umkehr unterstellen und mich darauf hingewiesen haben, dass der Attentäter von Nizza erst seit kurem in Frankreich ist, hier eine Klarstellung. [1]
ICH GOUTIERE KEINEN TERRORISMUS. Es ist schrecklich, was in Frankreich passiert ist. Das war eine bestialische Tat, die für den Täter Konsequenzen haben muss. Da sind wir uns alle einig. In diesem Fall hat sich der Täter nicht in Frankreich, sondern schon zuvor radikalisiert. [2]
Was in dem Shitstorm untergeht: Ich habe in dem Thread das Attentat von Nizza nicht erwähnt. Ich spreche nämlich nicht von dieser Tat. Mir ging es um die Anhäufung von islamistischem Terror in den letzten Jahren. [3]
Ich möchte mit diesem Thread keine Opfer oder deren Angehörige verhöhnen. Ihnen gilt mein größtes Mitgefühl. Was ich mit dem Thread will: Die Aufmerksamkeit auf systematische Dynamiken im Hintergrund lenken, die Radikalisierung begünstigen. [4]
Und da gibt es Zusammenhänge zwischen einem Gefühl der Ausgrenzung / Diskriminierung und Radikalisierung. In dieser Studie nachzulesen: iits.univie.ac.at/fileadmin/user… [5]
Ich behaupte deswegen aber nicht, wie mir unterstellt wird, dass die Franzosen selbst an den Attentaten schuld seien. So eine Verkürzung der Dynamik ist empathielos und verkürzend. Der Hintergrund dieses Prozesses ist wesentlich komplizierter. [6]
Dauerhafte Diskriminierung macht etwas mit einem Menschen. Ein Gefühl von Machtlosigkeit und Demütigung entsteht. Die Reaktion darauf ist unterschiedlich: Die einen suchen Zuflucht in einer radikalisierten Community. Dort finden sie die Anerkennung, nach der sie sich sehnen. [7]
Die Frustration entlädt sich und tritt vereinfacht gesagt in einer Fight-Reaktion hervor. Verbale und physische Gewalttaten sind die Folge. Den Täter*innen soll dabei aber keine Verantwortung abgesprochen werden. Auf Hetze muss reagiert werden. [8]
Extremistische Gewalt muss von den Behörden in Zaum gehalten werden. Für die Täter*innen braucht es Konsequenzen und harte Strafen. Verschärfte Kontrolle der betroffenen Communitys und das Einsperren von Täter*innen kann aber nicht alles sein. [9]
Die Politik sollte unter Zuzug der Sozialwissenschaft erörtern, was die Ursache von radikalen Terrorakten ist. Ähnlich wie bei einer körperlichen Krankheit ist bei der gesellschaftlichen Krankheit des Islamismus nämlich der Terror nur das Symptom. Die Ursachen liegen tiefer. [10]
Auf Twitter können nie alle Ursachen fundiert aufgeschlüsselt werden. Dazu eignet sich dieses Medium nicht. Allerdings möchte ich noch einmal auf die oben verlinkte Studie verweisen. [11]
Diskriminierungserfahrungen erhöhen die Radikalisierungsgefahr. Ja, es erhöht die Gefahr. Das heißt nicht, dass Täter*innen nicht für ihre Taten verantwortlich sind. Wie bereits unter Kant, gilt im liberalen Diskurs noch heute: Sapere aude [12]
- habe Mut, dich deines Verstands zu bedienen. Das gilt für jeden Menschen, der nicht psychisch erkrankt ist. Der freie Wille bringt den letzten Ausschlag zur Tat. Der Rechtsstaat muss respektiert werden. Wer das nicht tut, wird bestraft und kommt hinter Gitter. [13]
Kommen wir aber nach all diesen Zurechtweisungen nun zum Kern des Problems: Die Ursache für die Krankheit des Islamismus. Wie bei jeder anderen Krankheit gibt es hier begünstigende Umstände, dass sie ausbricht. Ein systematisch diskriminierendes System ist so ein Umstand. [14]
Dass unser westliches System Minderheiten systematisch diskriminiert, ist durch die Arbeit von Zahlreichen NGOs wie beispielsweise @Verein_ZARA dokumentiert. Darüber, wie Rassismus vereinfacht funktioniert, klärt die aktuelle #Dok1 über das Blue-Eyed-Experiment auf. [15]
Die Doku ist noch eine Woche in der @ORF_TVthek verfügbar. Sie zeigt, wie unterschwellig Alltagsrassismus passiert und was das in Menschen auslöst. Dass es diese Systematik gibt, ist vielen Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft nämlich nicht bewusst. [16]
Ja, ich bin auch Teil dieser Mehrheitsgesellschaft und kenne keine Diskriminierung aufgrund meiner Herkunft, meiner Religion oder meiner Hautfarbe. Allerdings weiß ich als queere, junge Frau vom Land sehr wohl, was Diskriminierung bedeutet. [17]
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich werde nie zur Gänze nachvollziehen können, wie es People of Color und anderen Minderheiten geht. Schweige ich aber deswegen und kritisiere Diskriminierung, die mich nicht persönlich betrifft nicht, unterstütze ich sie indirekt. [18]
Antirassistischer Aktivismus von Weißen ist nicht mit White Saviorism gleichzusetzen. In meiner Arbeit möchte ich niemanden bevormunden. Es geht mir darum, Menschen mit Diskriminierungserfahrungen zuzuhören und für sie als Sprachrohr zu dienen. [19]
Deswegen bin ich zum Beispiel auch für die freie Wahl in der Kopftuchdebatte. Denn der Kopf einer Frau gehört nur ihr. Ob sie mit ihm ihren Glauben ausdrücken will oder wie ich einfach gerne Hüte, weil ihr am Kopf schnell kalt wird, ist allein ihre Entscheidung. [20]
Zu diesem Thema gibt es zum Beispiel tolle Literatur von der muslimischen Journalistin und Autorin Menerva Hammad. Diskriminierung ist in der Gesellschaft tief verankert und beginnt schon früh. Das hat @MelisaErkurt in ihrem aktuellen Buch #generationharam illustriert. [21]
Bereits in der Schulzeit werden Migrant*innen benachteiligt, indem ihr Verhalten von Lehrer*innen unter anderem selektiv wahrgenommen wird und sie anders behandelt werden. Ein Bildungsaufstieg in Österreich ohne gut situierte “Bobo-Eltern” ist deshalb sehr schwierig. [22]
Auch im Erwachsenenalltag ergeben sich Probleme und es bilden sich beuspielsweise Parallelgesellschaften aus. Das zeigt beispielsweise eine weitere #dok1 aus dem Jahr 2016 von @HannoSettele. [23]
In “Österreich & Türkei, ein schwieriges Verhältnis” analysiert er, wie es zu solchen Entwicklungen kommt und welche Auswirkungen sie haben. Dieser Teil der türkischen Community wird hier nur als Beispiel von vielen herausgegriffen, um den Sachverhalt darzustellen. [24]
In Frankreich sind die Probleme noch viel tieferliegender: In den Banlieues, den Vorstädten von Metropolen, entstehen Cluster der Ausgrenzung. Der Film “"La Désintégration" von Philippe Faucon zeigt diese Dynamik sehr anschaulich. [25]
Die Bewohner*innen der Banlieues sind von der Mehrheitsgesellschaft abgekoppelt und werden von dieser stigmatisiert und diskriminiert. Zum Glück verhindern soziale Wohnprojekte beispielsweise der @Stadt_Wien solche Entwicklungen in Österreich großteils. [26]
Hier kommen wir auf alle Fälle zu einer wichtigen Ursache für die vermehrte Radikalisierung von vorwiegend jungen Männern: Segregation und (oft unbewusste) Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft. Ich verweise hier noch einmal auf meinen Exkurs zu Kant. [27]
Diese Prozesse begünstigen Radikalisierung, den Radikalisierten darf aber nicht die Verantwortung für Ihre Taten abgenommen werden. Gleichzeitig greift es aber zu kurz, eine Gesellschaftsgruppe pauschal als gewalttätig und gefährlich zu brandmarken. [28]
Durch meine journalistischen Tätigkeit für das Radiomagazin Femality und @amrand_at durfte ich unter anderem mit vielen Muslima*s und einigen Geflüchteten sprechen und ihre Erfahrungen anhören. Ich durfte tolle junge und alte, weiße und BIPoCs kennenlernen. [29]
Sie sind weit weg von dem gefährlichen Feindbild, das derzeit vor allem von rechten Interessensgemeinschaften und Parteien kolportiert wird. Sie sind Menschen wie Sie und ich, die aber im Gegensatz zur Mehrheitsgesellschaft ein Zusatzpackerl tragen müssen. [30]
Ihre Diskriminierung muss im Kontext der Intersektionalität betrachtet werden: Eine schwarze Frau hat andere Diskriminierungserfahrungen als eine weiße Frau. Und ein muslimischer Mann erlebt andere Arten von Ausgrenzung als ein jüdischer. [31]
Ein Diskriminierungsmerkmal schließt die anderen nicht aus. Wenn Sie das Thema interessiert: Diese Zusammenfassung meines ehemaligen Dozenten Manuel Bräuhofer, Veranstalter der “Österreichischen Tage der Diversität”, ist sehr lesenswert: vielfalt-managen.at/wp-content/upl… [32]
Und damit komme ich zu meiner Conclusio: Die gesellschaftliche Krankheit des Islamismus (der Terminus ist journalistisch pointiert zu verstehen und nicht wissenschaftlich) hat als Symptom Radikalisierung, verbale und physische Gewalt und Terror. [33]
Die Ursache liegt einerseits in der Persönlichkeitsstruktur der Täter*innen, sie handeln, sofern sie nicht psychisch erkrankt sind, nach freiem Willen. Gleichzeitig wirkt sich ein systematisch diskriminierendes System als Katalysator auf Hass und Hetze aus. [34]
Die Angriffe der eigenen Persönlichkeit kann grundlegend drei Reaktionen hervorrufen: Fight, Flight oder Totstellen. Einige wenige Menschen radikalisieren sich und werden gewalttätig. Der Großteil aber muss sich der Mehrheitsgesellschaft beugen und die Bedingungen annehmen. [35]
Bei vielen Personen äußern sich Traumata durch Diskriminierungserfahrungen in Form von Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen. Die neue Sonderausstellung im @FreudMuseum enthält einige spannende Inputs zum Thema. [36]
Das Problem: #Psychotherapie wird österreichweit nicht von den #Krankenkassen bezahlt. Aber gerade Migrant*innen, die besonders von Diskriminierungserfahrungen betroffen sind, können sich den Zugang zur teuren Behandlung oft nicht leisten. [37]
Auch zu diesem Thema hat @MelisaErkurt vor Kurzem in @falter_at einen treffenden Kommentar veröffentlicht. [38] falter.at/zeitung/202010…
Was eine sichere, demokratische, multikulturelle Gesellschaft also braucht, um zu funktionieren: Mehr Unterstützung von der Politik (u.a. @bmsgpk), mehr Aufklärung in den Schulen und zusätzliche Ausbildungen für Lehrer*innen. [39]
Um das zu ermöglichen, braucht es auch Sie: Zeigen Sie Zivilcourage.
Unterstützen Sie Minderheiten, die pauschal stigmatisiert werden. Befreien Sie sich vom Schwarz-Weiß-Denken. Sagen Sie “Nein” zu Hass und Hetze. Schauen Sie hin. Machen Sie Österreich lebenswert für alle. [40]
[Thread Ende]
PS: Entschuldigen Sie bitte Tippfehler. Ich hoffe Sie stören den Sinn nicht. Es ist 4 Uhr morgens. Normalerweise geh ich um 10 Uhr abends schlafen und stehe um 6 Uhr morgens auf. Der Hass, der mir persönlich entgegengeschlagen ist, hat das heute nicht zugelassen. #twitterlove

• • •

Missing some Tweet in this thread? You can try to force a refresh
 

Keep Current with Julia Pabst

Julia Pabst Profile picture

Stay in touch and get notified when new unrolls are available from this author!

Read all threads

This Thread may be Removed Anytime!

PDF

Twitter may remove this content at anytime! Save it as PDF for later use!

Try unrolling a thread yourself!

how to unroll video
  1. Follow @ThreadReaderApp to mention us!

  2. From a Twitter thread mention us with a keyword "unroll"
@threadreaderapp unroll

Practice here first or read more on our help page!

More from @julia_pabst

3 Nov
Warum Psychotherapie so viel kostet? Nicht weil Therapeut:innen ein zu hohes Honorar haben. Nein, die Krankenkasse hat ein viel zu geringes Kontingent an Therapieplätzen. UND die Ausbildung müssen die Therapeut:innen selbst tragen. Das sind Kosten um die 50.000 Euro. Mindestens.
Damit müssen sie eigentlich fast 100€ verlangen, damit sie den Kredit abbezahlen können, den sie für die Ausbildung aufgenommen haben. Das Absurde: Man muss sich die Psychotherapieausbildung leisten können. Die meisten Normalsterblichen tun das ohne Kredit nicht.
Und wer bekommt einen Kredit? Entweder, wer Sicherheiten hat (spricht, sowieso wohlhabend ist) oder wer hohe Zinsen in Kauf nimmt. Damit werden viele Bevölkerungsgruppen von der Therapieausbildung systematisch ausgeschlossen.
Read 8 tweets
2 Nov
Genau um diese Zeit vor einem Jahr starrten mein Freund und ich ungläubig auf unsere Laptops. Schüsse in Wien. Tote. Unsere Handys vibrierten dauernd. Alle in Sicherheit. Fuck. Doch nicht. Meine beste Freundin hockte am Schwedenplatz im Keller einer Bar. oe1.orf.at/player/2021110…
Dutzende Menschen kauerten in diesem Altbaukeller am Boden. Weinten leise, riefen ihre Liebsten an; manche verabschiedeten sich. Meine Freundin schickte in unsere Freundesgruppe eine Sprachnachricht. Es gehe ihr gut. Sie war mit Kolleg:innen unterwegs. Alle stünden unter Schock.
Aber sie war unverletzt. Der Kellner hatte schnell reagiert und die Gäste in den Keller gescheucht. Dort ging er nun umher und verteilte Wasser. Stundenlang harrten sie eingepfercht mit Fremden aus. Niemand wusste, was passierte.
Read 12 tweets
2 Nov
Ich hab von der ÖGK den Zuschuss für 40 Stunden Psychotherapie bekommen. Das heißt, ich spare mir 1.120 Euro. Insgesamt kostet die Therapie aber 4.000 Euro für 40 Stunden. Das heißt, ich mit meinem Berufseinsteiger:innengehalt muss den Rest selbst zahlen. Das ist so kaputt.(1/17)
Wie kann das sein, dass ich es mir leisten können muss, gesund sein zu dürfen? Ich bin seit vier Jahren immer wieder depressiv, nehme seit 3 Jahren Antidepressiva und mache die Psychotherapie, damit ich gesund bleiben und arbeiten kann. (2/17)
Und die ÖGK streicht den Antrag von 60 Stunden runter auf 40 Stunden? That’s fucked up, right? Well, that’s not it yet. Die Krankenkassa zahlt nicht einmal 1/3 des Honorars meiner Therapeutin. Sie schießt nur 28€ von den 100€ pro Stunde zu. (3/17)
Read 18 tweets
2 Nov
Es ist so traurig, dass die Boulevard-Presse häufig durch Verkürzungen verfälscht und Medien-Ethik und Personenschutz mit den Füßen tritt. Die Inseratenaffäre in Ö bestätigt das. Dabei ist Boulevard so wichtig, weil er meinungsbildend für den Großteil der Bevölkerung ist. (1/7)
Medien müssen inklusiver werden und die Lebensrealität der Leser:innen abdecken, wenn wir weitere Polarisierung vermeiden wollen. Qualitätsmedien werden derzeit aber oft nur von Eliten gelesen. Die Boulevardpresse nimmt also eine zentrale Rolle bei der Volksbildung ein. (2/7)
Da müssen wir Journos uns auch selbst bei der Nase nehmen: Es braucht mehr Quellentransparenz (auch in der Qualitätspresse), es braucht einen verpflichtenden Ehrenkodex (wie jener des Presseclubs @PCConcordia) und es braucht mehr Schulungen für sensible Berichterstattung. (3/7)
Read 8 tweets
2 Nov
Vor einem Jahr habe ich gemeinsam mit @ronny_taferner, @sndrschbr, @chiara_theresa und @paul_e_maier den gemeinnützigen Verein amrand.at gegründet. Seither berichten wir über jene Menschen, deren Lebensrealität in der digitalen Nachrichtenflut zu kurz kommt. (1/6) Image
Stichwort: Slow Journalism, Constructive Journalism und Social Journalism. Wir wollen multimedialen Journalismus machen, der den Horizont erweitert und unsere Zuschauer:innen näher zusammenbringt. Wir wollen Journalismus ins 21. Jahrhundert bringen. (2/6)
@webstandardat und @ORF haben bereits über uns berichtet. Unser erfolgreichstes Youtube Video hat mittlerweile 36.000 Klicks. Wir sind zudem auf über zehn großartige, ehrenamtlich arbeitende (!) Multimedia-Redakteur:innen (die meisten von @JourFHWien) angewachsen.(3/6)
Read 7 tweets

Did Thread Reader help you today?

Support us! We are indie developers!


This site is made by just two indie developers on a laptop doing marketing, support and development! Read more about the story.

Become a Premium Member ($3/month or $30/year) and get exclusive features!

Become Premium

Too expensive? Make a small donation by buying us coffee ($5) or help with server cost ($10)

Donate via Paypal Become our Patreon

Thank you for your support!

Follow Us on Twitter!

:(