Krisen sind komplex und kaum etwas macht mich so ratlos, wie das Fordern von Lösungen in einer globalen Krise, die nur den eigenen Blickwinkel bedienen. Vergleichbar ist dieses Verhalten mit der Forderung für Eigenverantwortung, aber nur bei anderen.
Das Thema Schule beispielsweise. Es ist sehr heilsam, aktuell mal bei einer digitalen Elternratssitzung dabei zu sein.
Es gibt für jeden Standpunkt eine große Menge Meinung. Aber wörtlich wie im übertragenen Sinne duckt sich jeder, wenn das Protokoll geschrieben werden muss.
Die Schulleiterin der Grundschule in die meine Kinder gingen, erhält mehrmals täglich Mails, in denen Eltern sich beschweren. Den einen ist es zu viel; den anderen zu wenig, wieder andere sagen, das muss doch gehen. Am Ende ist es immer: ich, ich, ich, mein Kind, mein Kind, ...
Unvergessen auch der Vater (in der weiterführenden Schule), der bei der konstituierenden Sitzung in Präsenz wegen Schulgesetz, rumpöbelte, dass das Hygienekonzept schlecht sei & er das jetzt melden würde &dann ging.
Wir saßen in der Aula mit Masken, Abstand und offenen Fenstern und Türen.
Die wunderbare Schulleiterin der weiterführenden Schule ist glücklicherweise sehr klug, sehr gelassen und auch sehr lustig. Sie kann Leute abholen und erklärt, so gut, warum so lange an der Präsenz festgehalten wurde.
Ich versuche mal anhand von Beispielen aufzuzeigen, wie viele Stränge Schulen miteinander verbinden müssen:
Es gibt Eltern, die fordern, dass der Unterricht gestreamt wird (für Kinder, die ggf nicht präsent sein können): dafür muss das wlan funktionieren. Die meisten Schulen haben wlan aber das ist ein dünnes digitales Lüftchen. Es braucht Equipment und Personal zur Wartung
Woher kurzfristig nehmen in einer Pandemie; selbst wenn ausreichend Gelder zur Verfügung stehen?
Nächstes Problem: Datenschutz, wer jemals bei einem Elternabend war, weiss, dass man sehr viel unterzeichnen muss, z.B auch, dass ein Klassenfoto gemacht und ggf. online gestellt werden darf. Wenn ein Elternteil nein sagt, wird nichts online gestellt.
Besonders witzig ist; dass Eltern; die ganz besonders viel Panik vor allem Digitalen haben, auf einmal jede Datenschutzhemmschwelle wegen corona fallen lassen.
Dann die Forderungen an die Lehrer:innen, den Unterricht digital aufzuarbeiten. Woher sollen die das können? Manche sind Naturtalente oder privat damit vertraut aber zu erwarten, dass das Kollegium von null auf hundert, die gesamte Arbeit digitalisiert; finde ich verwegen
Insbesondere wenn ich mir den Großteil der Arbeitnehmer:innen anschaue; die bei analogen kurzfristigen Anforderungen ihres Arbeitgebers komplett ausrasten würden.
Ebenfalls interessant ist zu sehen; wie davon ausgegangen wird, dass alle Eltern a) ausreichend digitales Know-how b) ausreichend Zeit v) ausreichend Schulwissen haben, um ihre Kindern beim homeschooling zu unterstützen
D) ausreichend Geld für Equipment muss auch da sein.
Es gab Kinder im ersten lockdown von denen haben die Lehrer:innen drei Monate nichts gehört. Ich kenne Lehrer:innen; die haben die Zeit damit verbracht, Unterlagen direkt nach Hause zu bringen und sie dort abzuholen.
Ich bin immer wieder so erschüttert; dass eine Lebensrealität außerhalb des eigenen Lebens nicht wahrgenommen wird. Diese Kinder brauchen nicht ein iPad; sie brauchen engmaschige Unterstützung.
Apropos Geräte,es gibt in Hamburg nun ausreichend Geräte aber nicht genug Leute,die diese aufbereiten können. Das kann nicht immer in der Schule geschehen; da das wlan zu schlecht ist.Das machen die Lehrer:innen dann zu Hause oder gehen in andere Schulen,wo es besser ist.
Was die Pandemie so schön vor Augen führt ist, dass unser Schulsystem ungerecht ist und dass es kaum alternative Konzepte sowohl in Hinblick auf eine bessere Bildung für alle als auch in Hinblick auf Digitalität gibt.
Aber zu meinen; dass wir im gleichen Moment eine Pandemie und ein gesellschaftliches Problem lösen, ist verwegen. Damit sage ich nicht; dass man es nicht versuchen sollte. Nie war die Zeit für Engagement so gut wie jetzt.
Schön wäre halt sich für eine Verbesserung des Systems und nicht für eine Verbesserung der eigenen Situation einzusetzen 😉
Noch ein Gedanke dazu, die Präsenzpflicht aufzuheben. A) wie schon vor den Ferien geschehen, werden dann viele Schulen darum bitten, die Kinder daheim zu lassen. Der Unterricht vor Ort, wird nur „Aufbewahrung“ sein. Das heißt es gibt keine wirkliche Wahl. Und Kinder
Die in der Schule/Kita sind werden stigmatisiert genauso wie Eltern, die ihre Kinder schicken. Dazu bereits hier feinstes Bashing gelesen.
Nächstes Problem: wer lässt seine Kinder zu Hause. Das sind dann oft auch die Eltern; deren Kinder dringend anderen Input brauchen.
Impfgener:innen; Nazis und fanatische Religöse warten seit Jahren darauf, ihre Kinder zu Hause nonstop indoktrinieren zu können.
Nochmals: ich bin nicht dafür die Kinder in die Schule zu schicken und ich bin nicht dagegen; die Schulpflicht temporär außer Kraft zu setzen. Ich will lediglich auf die Komplexität des Themas verweisen, weil mir diese ganzen einfachen Lösungen/Forderungen auf den Sack gehen.
Wir spielen hier gerade Domino, wenn wir den einen Stein wegnehmen, fällt der andere weg.

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2 Jan
Seit 2007 bin ich auf Twitter und ehrlich gesagt, haben sich die allgemeinen Dynamiken nicht verändert. Sie waren früher womöglich nicht so häufig und auffällig, was klar ist, wenn man nur einer Handvoll Leute folgt, die man schon vorher vom Bloggen oder aus Foren kennt.
Eine Änderung, die ich sehr wohl wahrnehme, ist die einer Bedrohung marginalisierten Menschen, die vor allem aus der Ecke rechter Hetzer kommt.
In diesem Zusammenhang finde ich es umso schwieriger, wenn ich lese, dass irgendwelche Leute einen Shitstorm abbekommen. Es ist kein Shitstorm wenn jemand öffentlich etwas postest und es Leute gibt, die das in irgendeiner Form kritisieren. Ich würde es Diskurs nennen.
Read 13 tweets
6 Nov 20
Was mich immer wieder stört, ist diese Überheblichkeit gegenüber Trump-Wähler:innen. So als ob wir mit gleicher Sozialisation nicht ganz genauso wählen würden. Unsere Großeltern waren Nazis, goddamit.
Thread anyone?
Haha. Als ob ich fragen würde
Read 38 tweets
26 Oct 20
Und jetzt stellen wir uns vor, dass so ein Typ unser Kanzler wäre. Er wäre gar nicht in der Lage eine echte Krise zu managen, wenn er bereits wegen einer verschobenen Parteiinternen Wahl derartig erratisch kommuniziert.
"Es läuft seit Sonntag der letzte Teil der Aktion #brexit in #Eurppa. Und das mit der vollen Breitseite des Establishments in #GB. Über dieses Vorgehen herrscht blankes Entsetzen." (Subtext: ich weiß gar nicht was ich tun soll, die Briten sind soooo gemein)
"Es läuft seit Sonntag der letzte Teil der Aktion „#Klimawandel verhindern“ in der #Welt. Und das mit der vollen Breitseite des Establishments #FridaysForFuture. Über dieses Vorgehen herrscht unter vielen Neoliberalen blankes Entsetzen." (Subtext: nach mir die Sintflut)
Read 4 tweets
24 Oct 20
Eine neuen Folge Brot und Getränke mit der wundervollen @forschungstorte ist raus

overcast.fm/+kuV7zWi5M
Diese Aufnahme entstand nicht in unsere Küche, sondern in der Champagner Club Bar in Düsseldorf (mit neuem Belüftungssystem).
@forschungstorte und ich sprachen dabei über eigentlich alles aber ganz besonders viel über Rollenmodelle, Leatherbois, Männlichkeitsbilder, Serien und educated drinking.
Read 9 tweets
6 Sep 20
In meiner Jugend schlief meine Freundin E. sehr oft am Wochenende bei uns. Hintergrund war, dass wir so gemeinsam weg gehen konnten. Meine Eltern bezahlten uns das Taxi und kontrollierten nicht, wann und mit wem wir heimkamen.
Wir waren ohnehin recht brav, keine Drogen außer Alkohol, wenig Exzesse, kein Trampen oder sonst etwas. Einfach abends zu einer Party oder in die Disko (so hieß das bei uns). Ich knutschte damals maximal vor Ort mit Jungs rum. E. brachte aber von einer Feier mal einen Jungen mit.
Sie schliefen im Gästezimmer, ich in meinem Zimmer. Morgens saßen wir alle beim Frühstück. Mein Vater, meine Mutter und womöglich auch mein großer Bruder. Völlig entspannt. Meine Mutter schien sich sehr zu freuen, weil sie neue Menschen am Tisch immer spannend fand.
Read 19 tweets
26 Jul 20
Eigentlich leben wir gar nicht in einem Patriarchat. Das würde bedeuten, dass cis-het Männer Verantwortung für und in einer Gruppe übernehmen. Wir leben vielmehr in einer Leitkultur, die auf die Bedürfnisse infantiler cis-het-Männer eingerichtet ist.
Alle verantwortungsvollen Kernaufgaben einer Gesellschaft wie Kinder erziehen, die Pflege von alten und Kranken wird vor allem von Frauen für gar kein oder wenig Geld erledigt.
Eine Verantwortung oder gar die Mitarbeit von Männern in diesen Bereichen wird nicht erwartet. Im Gegenteil, oft werden sie als ein weiteres Kind gesehen, das verhätschelt und bekümmert werden muss.
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