Ein Thread über Autismus, Gendern, inkludierender und exkludierender Sprache und Barrierefreiheit.

Was bedeutet es, wenn jemand sagt, ein Text sei exkludierend geschrieben?
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Oft lese ich von Leuten, die das Gendersternchen Verfechter, Texte im genetischen Maskulinum seien exkludierend, und auch Texte mit Binnen-I seien keine Lösung, weil diese trans und nichtbinäre Personen exkludierten.
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Auf der anderen Seite lese ich von Autisten und Autistinnen, dass für sie Texte mit Gendersternchen nicht barrierefrei sind. Dass es sie exkludiert.
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In den Diskussionen wirkt es dann manchmal, als wäre mit "inkludierend" und "exkludierend" beide Male das Gleiche gemeint, als stünden die beiden Ansprüche auf Inklusivität auf einer Ebene.
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Sie tun es nicht.

Meiner Meinung nach kann man hier zwischen Inklusion und Exklusion 1. und zweiter Ordnung unterscheiden.
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Inklusivität 1. Ordnung bedeutet: Ist der Text zugänglich für alle?

Ein Text, der auf einem Server nur für eine bestimmte Personengruppe liegt, ist nicht zugänglich.

Ein Dokument, das für die Öffentlichkeit nur mit ... 6/x
zur Hälfte geschwärztem Text herausgegeben wird, ist nicht zugänglich.

Ein Text, den eine bestimmte Personengruppe schlicht nicht lesen kann, ist nicht zugänglich.

Was hat das alles jetzt mit Autismus und Gendersternchen zu tun?
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Nun, einige Autisten und Autistinnen können Texte mit vielen Gendersternchen schlicht nicht sinnentnehmend lesen. Es betrifft nicht alle, aber genug, dass ich es als eines von den diversen Autismus-Symptomen ansehe.
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Ich hatte das bisher nicht gewusst, aber es leuchtet mir ein.

Autismus gehört in den Bereich der Neurodiversität, wo sich neben Autismus und AdHS u.a. auch noch Dyslexie befindet.

Und ich habe mal einen Artikel zu Intelligenztests bei Autismus gelesen. 9/x
Häufig sehr unausgewogene Begabungsprofile. Und typischerweise ein Leistungsabfall bei einer Aufgabe, bei der es darum ging, Symbole zu ersetzen.

Es wundert mich nicht, dass Autismus auch zu Besonderheiten beim Lesen führen kann.
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Betroffene beschreiben das so, dass das Gendersternchen als Sonderzeichen den Lesefluss so stark unterbricht, dass sie beim Lesen immer wieder von vorn anfangen müssen und schließlich den Text weglegen, ohne ihn verstanden zu haben.
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Das ist für mich Exklusion 1. Ordnung. Ein Text, der für eine bestimmte Personengruppe nicht zugänglich ist, dem sie keine Informationen entnehmen kann, über dessen Inhalt sie nicht mitdiskutieren kann.
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Kommen wir zur Exklusion 2. Ordnung.

Historisch gesehen sind Frauen lange Zeit von vielen Bereichen ausgeschlossen gewesen, in manchen Bereichen haben sie es immer noch schwer, Fuß zu fassen. Trans und nichtbinäre Personen werden leider allzu oft diskriminiert.
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Ein Text, in dem alle Personenbezeichnungen im Maskulinum stehen, könnte also je nach Kontext Männerbündelei abbilden, Ausdruck von sexistischer Denkweise sein oder im genetischen Maskulinum stehen und eigentlich "alle" meinen.
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Dieser Kontext ist manchmal klar, etwa wenn eine Fußnote zu Beginn darauf hinweist, dass Frauen "mitgemeint" sind.

Manchmal muss man es sich denken, etwa weil in Deutschland (außer katholische Priester) alle Berufe allen Geschlechtern offenstehen und ...15/x
bei einer großen Menge einer Berufsgruppe eigentlich immer auch Frauen dabei sein müssten.

Manchmal zeigt der Kontext, dass ein Maskulinum eben doch nicht generisch gemeint war, etwa wenn im Text immer von Polizisten geredet wurde, und erst am Ende ...16/x
darauf hingewiesen wird, dass es bei Polizistinnen anders ist.

So muss bei Texten im generischen Maskulinum ein Teil der Bevölkerung darüber nachdenken, ob der Text auch für sie gilt, bzw. für Menschen wie sie.
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Und je öfter sie die Erfahrung gemacht haben, diskriminiert zu werden, nicht mitgedacht, nicht gemeint zu werden, desto eher werden sie bei einem Maskulinum im Text davon ausgehen, dass tatsächlich nur Männer gedacht sind. Dass sie wieder mal nicht vorkommen.
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Das möchte ich Exklusion 2. Ordnung nennen. Die Personen können den Text lesen, die Informationen aufnehmen, sie können darüber diskutieren. Und sich hinterher beschweren, dass sie nicht vorkommen, oder zumindest nicht sichtbar sind.
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Wer diese beiden Arten von Inklusivität und Exklusivität so diskutiert, als stünden sie auf einer Stufe, verkennt, dass die Exklusivität 1. Ordnung de facto eine Gruppe von Behinderten von der Diskussion ausschließt.
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Wenn Ihr selbst so schreiben wollt - nun ja, es muss Euch ja nicht jeder lesen. Behauptet nur nicht, nur so wäre es inkludierend.
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Wenn Ihr fordert, dass alle so schreiben sollen, auch Amtsschreiben, dann fordert Ihr Barrieren, die einen Teil der Bevölkerung von Informationen abschneiden.

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PS: Weil ich die Tage als Argument gelesen habe:

Wie komme es, dass die Personen, die damit Schwierigkeiten haben, komischerweise nie Leute seien, die sich selbst als Teil der trans-/Queer-Bewegung sehen?
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Nun, möglicherweise ist es ja so, dass Autist*innen, die mit dem Gendersternchen Schwierigkeiten haben, dann, wenn sie selbst das ihnen zugewiesene Geschlecht in Frage stellen, nach Informationen auf Seiten suchen, die ihnen zugänglich sind ...24/x
- im Sinne der Inklusivität 1. Ordnung.

Und damit schlicht nicht in Eurer Bubble auftauchen, weil sie Eure Texte nicht lesen können.

Im besten Fall finden sie anderswo hilfreiche Informationen.
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Im schlechtesten Fall leiden sie, weil sie nicht die Community finden, die ihnen helfen könnte.

Sollte man vielleicht auch bedenken.

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Nachtrag: Weil der Thread mittlerweile meine Bubble verlässt und den Kontext, in dem er entstanden ist, möchte ich klarstellen:

Ich distanziere mich ganz ausdrücklich von denen, die sich aus
transfeindlichen Gründen über Gendersternchen mokieren.
Ich respektiere den Wunsch, durch Sprache gegen Unsichtbarkeit oder Stereotypen anzugehen und die Welt zu verbessern.

Es wäre schön, wenn die Lösung für die einen nicht die Barriere für andere wäre.

Und ich bin sehr dafür, auf diese Ziele auch mit anderen Mitteln hinzuarbeiten.

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spiegel.de/gesundheit/dia…
Was der Autor des Textes als besonders belastend für die Intensivpatienten beschreibt, sind Dinge, die für Autisten schon im Normalfall belastend sind: Grelles Licht. Dauerndes Gepiepse. Angefasst werden, ohne die Kontrolle darüber zu haben.
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