Die allermeisten sogenannten „ontologischen“ Fragen der Philosophie betreffen eigentlich Grund- und Grenzfragen, also Fragen der (Letzt-)Begründung, dem Ursprung, Prinzip usw. – Der Begriff „Ontologie“, der eigentlich aus der Neuzeit stammt, hat sich dabei zu einem Metonym für /1
alle Grund- und Grenzfragen entwickelt, auch als (säkulare) Alternative zur Frage nach dem – theologisch überdeterminierten – ‚Absoluten‘, um das sich die europäische philosophische Diskussion ca. 1650-1800 dreht. – Entsprechend herrscht in der Philosophie heute immer noch ein /2
großes Durcheinander, wenn von ‚Ontologie‘, ‚Metaphysik‘ oder ‚Transzendentalphilosophie‘ die Rede ist. Um dieses Durcheinander zu ordnen, versucht man oft, nach einem anderen neuzeitlichen Schema, dem von ‚Subjekt-Objekt‘ Unterscheidungen einzuführen: /3
‚Ontologie‘ betrifft dann Sachen, Dinge, Prinzipien des Gegenständlichen, des Seins; ‚Transzendentalphilosophie‘ – nach einer sehr spezifischen Lesart Kants – so etwas wie Bewusstseinsforschung oder Erkenntnistheorie. – Diese Einteilung ist allerdings hochgradig irreführend. /4
Sie verdeckt erstens die Tatsache, dass Prinzipienfiguren in der Philosophie wesentlich vielgestaltiger sind, als es in das Schema von ‚Subjekt-Objekt‘ passt. Sie verabsolutiert zweitens zwei bestimmte Prinzipienformen aus dieser Vielfalt zu Polen, um die sich die anderen /5
gruppieren: die Rede ist dann von ontologischen bzw. erkenntnistheoretischen Prinzipien, als hätten alle Philosoph:innen immer unterschiedslos in diesen Einteilungen gedacht (Spoiler: haben sie nicht). Die Einteilung hat überdies drittens instrumentelle Funktionen, die wenig /6
mit den Texten, dafür sehr viel mit den Kategorien von Doxographie und Forschung zu tun haben: Wenn alle über dasselbe sprechen, kann man alle aneinander messen; wenn die Begriffe, die als Kriterien dienen, überdies aus der Gegenwart stammen, liegen natürlich gegenwärtige /7
Positionen relativ dazu ‚richtiger‘ als historische. Das heißt: Man hat ein Kriterium für ‚Relevanz für die Gegenwart‘, das zugleich diese Gegenwart gegen die Tradition immunisiert – win-win. – Faktisch ist ‚Ontologie‘ in den Texten der Tradition nahezu immer ein Problem oder /8
Ausdruck eines solchen. Es gibt keinen einzigen Ansatz, der einfach irgendeine ‚ontologische‘ Weltanschauung aufstellt – ‚ontologische‘ Begriffe sind wesentlich *Problembegriffe*. – Das hat mit einem reflexionslogischen Phänomen zu tun, das man mit Kant /9
‚transzendentalen Schein‘ oder auch ‚Verdinglichung‘ oder ‚Reifizierung‘ nennen könnte: Weil radikale Prinzipienauslegungen immer auch sich selbst betreffen müssen, sie andererseits aber das Prinzip, das sie dann bestimmen, eben immer nur mit einem bestimmten Begriff auslegen /10
können, entsteht bald der Schein, dass das, was man da auslegt, nicht nur am und durch den eigenen Logos, sondern für alle anderen auch etwas *sei*, was da vorliegt. Der performative Vollzug der Explikation notwendiger Voraussetzungen wendet sich in eine nachträgliche /11
Auslegung dieses Vollzugs als ‚Genese‘, Entstehung des eigenen Logos (und aller anderen möglichen Logoi) von diesem konkreten ‚Ursprung‘ aus. Reflexivität und Bestimmtheit der Auslegung erzeugen den Schein einer ontologischen Apriorität, wo faktisch nur eine logische ist (und /12
zwar qua bestimmter Auslegung). ‚Ontologie‘, sofern sie eine solche verdinglichende Auslegung betrifft, ist damit ein reflexionslogisches *Sekundärphänomen*, das Ergebnis einer Doppelauslegung (Vollzug -> Bestimmung als ...), die im Rückblick zu einer verschwimmt. /13
‚Ontologie‘ betrifft so also prinzipiell nie das ‚Erste‘ – sondern immer nur im Nachhinein, in einer Auslegung einer Auslegung, die man schon vollzogen hat, aber unter der Maßgabe einer bestimmten Voraussetzung (‚Ursprung ist fundamentaler als Grund‘, ‚Denken setzt Sein /14
voraus‘, ‚Eins ist früher als Zwei’ usw.) re-interpretiert. Das kann man an den Texten auch zeigen: Sie entdecken die Struktur von Inhalt-Operation am eigenen Logos, streben dann aber danach, das eine oder das andere ‚rein‘ zu denken. Das führt dann in die bekannten Zirkel /15
und Regresse. Die Ursprungsfixiertheit der Philosophie ist so stark, dass sie ihre Möglichkeitsbedingung zugunsten einer abstrakten Auslegung derselben auf ein ‚Eines‘ hin verlässt und das dann an den Anfang setzt. Und das bemerken dann wieder andere und problematisieren es. /16
Deswegen sollte man nicht einfach die Philosophie in ‚Ontologie‘ und ‚Erkenntnistheorie‘ einteilen. Stattdessen sollte man, ausgehend vom jeweiligen Denkproblem eines phil. Textes, verstehen, wie er – oder wie die Rezeption desselben – zu einer ontologischen / erkenntnis- /17
theoretischen‘ Auslegung seines Grund- und Grenzproblems kommt – und ob überhaupt, oder ob es sich nicht eher um ein Rezeptionsartefakt handelt, ggf. sogar erst durch populäre oder viel spätere Darstellungen oder in die Welt gesetzt. Man wird dann unterscheiden können /18
zwischen Ansätzen, die einer Verdinglichungstendenz unterliegen, solchen, die gegen sie ankämpfen und solchen, die nach dem Tertium noch von ‚Verdinglichung‘ und ‚Ankämpfenkönnen‘ suchen – und manchmal alles zusammen, in nur einem Text. /19
Auch mit einer solchen Perspektive ist es dann möglich, Philosophen wie Plotin und Derrida oder Empedokles und Hegel in einen Vergleich zu bringen – aber eben: über ihre jeweilige Auseinandersetzung mit *ihrem* Grund- u. Grenzproblem, nicht über ‚Ontologie‘ oder /20
‚Erkenntnistheorie‘ oder das Schema ‚Subjekt / Objekt‘. In einem solchen Vergleich wird allererst die recht überwältigende Vielfalt der Prinzipienexplikation in der Philosophie deutlich – und damit auch das gedankliche Reservoir, das sie uns für die Gegenwart bietet. /21
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@MichaelEsders@0kommanichts Foucaults Bruch mit einer marxistisch orientierten Analyse fällt zeitlich ans Ende der 1950er. Das hat weniger mit ‚Ökonomie‘ als mit der Gemengelage des franz. Marxismus zu tun, der – wie bei Garaudy oder auch bei Sartre – Marxismus, Humanismus und Existenzphilosophie kreuzt.
@MichaelEsders@0kommanichts Das von Ihnen genannte Gespräch ist außerdem vom 4. März 1972, nicht von 1968 (Schriften 2, #106). Die Kritik, die beide dort ausformulieren, betrifft die Dialektik von Theorie und Praxis, die von vulgärmarxistischen Positionen stets vereinseitigt und „totalisiert“ wird.
@MichaelEsders@0kommanichts Deleuze wiederum war zwar immer links, aber nie Marxist wie z. B. Lyotard einer war. Ihn interessiert das Verlassen der geschichtsphilosophisch aufgeladenen Letztbegründungsfragen (vgl. seine Hegelkritik in DW) hin zu einer dezidiert konkreten, partikulären Analyse
@JochenVenus@WolfgangEssbach Es geht um „Behavior“ im Kontext von Psychologie. Das, was dabei also fraglich ist, kann gerade nicht beobachtet werden. Und nein: Voraussetzungsvolle Gattungsbegriffe sind nicht „die Standardsituation“ und widersprechen auch „ungeklärt“. Im Gegenteil:
@JochenVenus@WolfgangEssbach Ontologische Voraussetzungen in Gattungsbegriffen, die zu empirischen Problemstellungen gehören, sind verantwortlich für das Verfehlen des empirischen Sachverhalts. Weswegen man sie in den real-empirischen Wissenschaften auch einklammert.
@JochenVenus@WolfgangEssbach Die Psychologie hat schließlich nur den Begriff, gar keinen Gegenstand, der sich aus einer logischen Operation ergibt, nicht nur aus einer voraussetzungsvollen Auslegung eines beobachtbaren Sachverhalts. Ihr Gegenstand *ist* dieser Begriff.
@d_witte1 Das Argument ist klassisch wissenschaftstheoretisch: Statistik ist eine Anwendungswissenschaft, die abhängig ist von den Prämissen, die man voraussetzt. Insbesondere in den Human- und den Sozialwissenschaften sind diese Prämissen ontologisch voraussetzungsvoll und nicht selten
@d_witte1 auch implizit reflexiv strukturiert, was sich in der Theoriebildung dann in der Annahme ausdrückt, etwas sei „immer schon“ Voraussetzung für etwas anderes. In den Sozialwissenschaften – die eigentlich deskriptive Wissenschaften mittlerer Reichweite sind – zeigt sich das oft in
@d_witte1 impliziten ontologischen Stufungen, die sich in Bruchlinien der Debatte ausdrücken (Individuum / Gesellschaft, Soziologie / Sozialpsychologie usw.). In der Psychologie sorgt v. a. die Reflexivität des Gegenstandes (Psyche, Geist usw.) für einen transzendentalen Schein.