Wenn für führende deutsche Politiker die Ostpolitik das Modell ist für den Umgang mit China, dann ist es nötig, sich damit zu beschäftigen.
Erstens, Ostpolitik war eingebettet in eine von Washington bestimmte westliche Strategie, die aus "Härte und Gesprächsbereitschaft", also Abschreckung und Detente (mit der deutschen Unterabteilung Ostpolitik) bestand.
Ohne die amerikanisch-westliche Entschlossenheit, den Systemkonflikt mit Russland zu gewinnen, hätte die Sowjetunion zahlreiche Chancen gehabt, Westeuropas Freiheit und Sicherheit zu untergraben und die jungen Demokratien zu destabilisieren.
Hard power war die unabdingbare Voraussetzung für den Fortbestand westeuropäischer Demokratie, ebenso wie die Bereitschaft der Schutzmacht USA zur Konfrontation mit der Sowjetunion.
Entscheidend war, dass Westeuropa unter amerikanischer Regie zum Schaufenster der Demokratie und damit einhergehend der Konsumgesellschaft wurde. Da blieb Moskau nur der Bau der Mauer, um die Menschen daran zu hindern, durch Auswanderung Freiheit und Prosperität zu erlangen.
Zweitens der Sowjetkommunismus scheiterte daran, dass er den Menschen in der Systemkonkurrenz nicht das bieten konnte, was die liberale Ordnung im Westen bot.
In allen Dimensionen: Freiheit, Sicherheit, Prosperität, lieferte das sowjetische Modell weitaus weniger als das liberale Modell. Daran scheiterte die Sowjetunion, und Gorbatschow zog nur noch die Konsequenz mit ihrer Auflösung.
Ostpolitik war nur ein kleiner Teil dieser Geschichte. Die Vorstellung, dass Deutschland auf eigene Faust den Kalten Krieg beendet habe, indem es auf "Gesprächskanäle" gesetzt habe, also freundlich zu den Herrschern des Kreml war, ist ein Mythos.
Die Lehre aus dem Kalten Krieg, wenn es eine gibt, muss also heißen: Härte und Gesprächsbereitschaft, vor allem aber den Willen, den Systemwettbewerb zu gewinnen, führt zum Ziel.
In Deutschland hat sich der Topos "Ostpolitik" als Schrumpfversion der historischen Ostpolitik etabliert, als sei es nicht darum gegangen, "klare Kante" gegen die Sowjetunion zu zeigen. Keiner wusste das besser als der ehemalige Regierende Bürgermeister Westberlins Willy Brandt.
Was sich im Diskurs hinter "Ostpolitik" verbirgt, ist der Unwille zu einer Konfrontation mit uns nicht immer freundlich gesinnten Regimes. Das überlässt man lieber anderen, weil es schwierig ist und kostspielig.
Das aber ist das Gegenteil der ebenfalls vielbeschworenen "Verantwortung". Diese erfordert, dass man für die eigenen Grundwerte und Interessen einsteht, auch wenn es schwierig wird.
Zur Verantwortung gehört eben beides, Härte und ein Dialog, der über den Austausch von Freundlichkeiten hinausgeht und der anderen Seite klare rote Linien setzt.
Das ist etwas grundlegend anderes als der politische Dialog, mit dem deutsche Politiker groß geworden sind: der permanenten Verhandlung mit politischen Freunden und Gegnern, die alle ungefähr das Gleiche wollen. Im Umgang mit Russland und China ist das nicht der Fall.
Der Verweis auf "Ostpolitik" hat aber noch eine andere Funktion. Es geht darum, die "Unternehmen-first"-Politik abzuschirmen gegen politische Kritik. Dabei geht es nicht einmal um Wirtschaftsinteressen, die den Einsatz für regelbasierte globale Marktwirtschaft erfordern würden.
Es geht darum, wie man am Beispiel China sieht, die Interessen einer Reihe von Großunternehmen zu schützen, die sich massiv auf dem chinesischen Markt begeben haben. Und auch bei NS2 gibt es eine Grauzone des Lobbyismus.
Was dabei aufs Spiel gesetzt wird, ist die Fähigkeit der liberalen Demokratien, sich gegen eine zunehmende Härte von Seiten großen Autokratien zur Wehr zu setzen. Kein Wunder, dass Peking und Moskau insbesondere Deutschland als ein Einfallstor für ihre Machtstrategien betrachten.
Merkel hat 16 Jahre lang sich darum bemüht, am Gleichklang von wirtschaftlichem Engagement und politischer Modernisierung, wie er sich aus den Globalisierungsideen und dem Satz vom "Ende der Geschichte" ergab, festzuhalten, zuletzt gegen jede Evidenz.
Deutschland steht jetzt am Scheideweg: der nächste Kanzler/ die nächste Kanzlerin muss sich geopolitisch robust verhalten, oder eine Schwächung der liberalen Ordnung in Kauf nehmen, die Deutschland bald auf die Füße fällt.
Das fällt zusammen mit einer einzigartigen Gelegenheit, die Biden-Regierung hat sich genau das zum Ziel gemacht: die freiheitlichen Dimensionen der internationalen Ordnung . Auf der Suche nach Mitspielern umwirbt sie insbesondere Deutschland.
Wenn Deutschland diese Chance nicht annimmt, und im europäischen Kontext eine neue Partnerschaft mit den USA schmiedet, dann schwächt das die Demokratie, stärkt China und Russland, und macht einen zweiten Trump wahrscheinlicher.
Das bedeutet nicht, dass die Auseinandersetzung mit China dem Kalten Krieg strukturell ähnlich wäre. Anders als im Kalten Krieg sind heute die Gegenpole ökonomisch interdependent, und das Schlachtfeld heißt Performance, vor allem bei Tech und Wirtschaft, aber auch bei soft power.
Anders gesagt: die Kriegsgefahr, die den Kalten Krieg gerade für Deutschland untermalte, ist im Fall China für Deutschland nicht gegeben; Krieg droht nur in Chinas Nachbarschaft.
Was aber strukturell gleich ist, ist die Frage nach einer robusten Haltung: die Bereitschaft, einen Preis für den Erhalt der freiheitlichen Ordnung zu bezahlen.
Deutschland ist im neuen Systemwettbewerb nicht weniger zentral als im Kalten Krieg, diesmal nicht als Schauplatz und Objekt, sondern als Akteur. Die globale liberale Allianz, die Biden will, funktioniert nur, wenn Deutschland tatsächlich mitmacht.
Aus genau diesem Grund schaut die Welt derzeit sehr genau auf Deutschland: wird der Nachfolger/die Nachfolgerin Merkels dieser neuen Verantwortung gerecht werden?

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