#Tunesien Präsident Kais Saied ruft Notstand aus, friert Arbeit des Parlaments ein, hebt Immunität der Abgeordneten auf, entlässt Regierungschef und übernimmt die Exekutive.
Er bezieht sich auf Art 80 der Verfassung - der sieht das aber m.E. in der Form nicht vor.
Vorhin vergessen: er will auch die Rolle des Staatsanwalts übernehmen.
Der Moment heute ist taktisch klug von KS, denn Parlament und Regierung haben kaum Rückhalt. Rechtlich ist das Ganze aber mehr als grenzwertig.
Ennahdha hat gerade laufende Pressekonferenz unterbrochen und spricht von Staatsstreich
In der Ferne sind Feuerwerk und Autokorsos zu hören. Eigentlich gilt Ausgangssperre und es waren tagsüber zumindest überall Straßensperren.
Erster Eindruck online: meine Twitter-TL ist fassungslos und diskutiert Verfassungsrecht, FB freut sich.
KS ist qua Verfassung Oberbefehlshaber der Armee, dann wohl Ex-PM Mechichi gleichzeitig Innenminister. Die Frage heute Nacht ist dann wohl, wie sich die Polizei verhält. Beide Einheiten sind historisch verfeindet.
Laut Ali Larayedh (Ennahdha) bei AlJazeera wird PM Mechichi seit heute Morgen im Präsidentenpalast festgehalten
Die Reaktionen draußen zeigen auf jeden Fall, wie sehr viele Tunesier den Hals voll haben und wie enttäuscht sie von den letzten Regierungen und Parlament waren.
Sichtlich mitgenommer Rached Ghannouchi, Präsident von Ennahdha und Parlament, bei Al Jazeera: ist nicht verfassungsmäßig, Parlament werde weiterarbeiten.
Ennahdha hat in den letzten zehn Jahren stark an Rückhalt verloren, aber war immer an Regierung beteiligt. Die Angst vor einem ägyptischen Szenario / sich wie unter Ben Ali im Gefängnis wiederzufinden prägt bis heute die Partei und ihr Handeln
Im Staatsfernsehen laufen abwechselnd die Rede von Said und Militärmusik. Heute ist Tag der Republik, aufgeladenes Datum: Heute vor acht Jahren wurde der Oppositionspolitiker Mohamed Brahmi von Extremisten ermordet, vor zwei Jahren starb der damalige Präsident Essebsi
Laut Al Arabiya (unbestätigt) wurden Flughafen und Grenzen geschlossen. Der mächtige Gewerkschaftsbund UGTT hat eine Dringlichkeitssitzung einberufen. Von dessen Position kann einiges abhängen in den nächsten Tagen. Er hat mit seiner frühen Unterstützung der Proteste 2011
die Revolte damals logistisch massiv unterstützt.
Noch ist der Flughafen wohl offen. Die Grenzpolizei teilte gerade per FB Live mit, dass sie gerne eine klare Ansage hätten, was sie nun machen soll 😅
Ein Armeehubschrauber kreist über der Hauptstadt, auf den Straßen wird weiter gefeiert.
In einem schriftlichen Statement präzisiert das Präsidialamt, dass die Arbeit des Parlaments zunächst für 30 Tage auf Eis gelegt werde. Said hat nicht das Recht, es aufzulösen.
Regierungschef Mechichi steht übereinstimmenden Medienberichten nach unter Hausarrest.
In mehreren Orten haben Demonstranten die Büros von Ennahdha angegriffen, in Nefta (Südwesten) wurde es angezündet.
In der Nacht haben mehrere Abgeordnete versucht, ins Parlament zu kommen. Sie wurden von der Armee daran gehindert. Nach Absetzung Mechichis, der auch Interim-Innenminister war, befiehlt der Leiter der Präsidialgarde im Ministerium
Auf den ersten Blick geht das Leben heute ganz "normal" weiter. Die befürchteten Auseinandersetzungen in der Nacht sind ausgeblieben. Wichtig wird heute sein, wie sich die Gewerkschaft positioniert. Auch andere Organisationen und Ausland haben bis jetzt nicht offiziell reagiert
Zwei kleinere Oppositiosparteien haben sich bis jetzt geäußert, der courant démocratique kritisiert Saïd, das mouvement du peuple unterstützt ihn. Gespannt warten alle auf die Ben Ali-Anhängerin Abir Moussi, deren Partei PDL in den jüngsten Umfragen vorne lag, und sowohl Ennahdha
als auch Saïd massiv kritisiert, und auf Ennahdhas Koalitionspartner Qalb Tounes, die populistische Partei des Medienmoguls Nabil Karoui, der 2019 Saïd bei den Präsidentschaftswahlen unterlegen war.
Vor dem Parlament kommt es derzeit zu Handgreiflichkeiten zwischen Anhängern von Saïd und Ennahdha. Letztere versuchen, ins Gebäude vorzudringen.
Laut lokalen Medien hat die Armee auch den Regierungssitz abgeriegelt.
Laut Al Jazeera haben Sicherheitskräfte ihr Büro gestürmt. Der Sender berichtet idR klar pro Ennahdha. (Trotzdem ist dies natürlich eine gefährliche Entwicklung für alle Medienschaffende hier)
Der Gewerkschaftsbund UGTT hat inzwischen reagiert. Vize-GenSek Tahri sagte im Radio, Saïds Vorgehen sei legal. In der Presseerklärung teilt man die Diagnose der Krise, betont aber, eine Lösung müsse im Dialog und im verfassungsrechtlichen Rahmen gefunden werden.
Wer’s genau verfassungsrechtlich aufgedröselt haben möchte, bitte hier entlang
Die Ausgangssperre wird um 2h verlängert, Reiseverbote verschärft und Versammlungen von mehr als 3 Personen verboten, so Präsidialamt. In einer Ansprache, nachdem er Gewerkschaft, Arbeitgeberverband, Frauen-NGO u.a. getroffen hat weist KS von sich, dass es sich um Putsch handelt
Außerdem werden alle öffentlichen Verwaltungen für zunächst zwei Tage geschlossen, mit Option auf Verlängerung.
Unterdessen meldet sich Abir Moussi von der PDL (s.o.) endlich zu Wort. Sie ist in einer schwierigen Position, denn mit dem Ende von Ennahdha verliert sie ihren Hauptgegner. Lautstarke Kritik an denen war gefühlt ihre Haupttätigkeit. Gleichzeitig hat sie ein Problem mit Saïd.
Sie stünde an Seite des Volkes und fordert, dass der Präsident die offenen Fälle der Vergangenheit, wie zB Morde an Belaid und Brahmi, aufrollt. Gleichzeitig kritisiert sie seine Interpretation des Art 80
In einem sehr versöhnlichen FB-Post erklärt der abgesetzt Premier Mechichi, die Entscheidung des Präsidenten anzuerkennen. Er verteidigt die Entscheidungen seiner Regierungen. Allerdings sei das politische System Tunesiens gescheitert und er verstehe die Wut der jungen Leute.
Er habe nicht die Absicht, Neuerungen im Weg zu stehen und werde in Zukunft keine politischen Ämter mehr anstreben.
Im Gegensatz zu Ennahdha (die ihn auch bald fallengelassen hätten), hält er also nicht an der Macht fest sondern versucht, möglichst unbeschadet und mit einem Rest Würde aus der Situation rauszukommen.
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In #Tunesien hat der designierte Regierungschef Hichem Mchichi (das wird noch lustig mit der Aussprache im Ausland, wobei Fakhfakh ja nicht einfacher war) gestern Nacht sein Kabinett vorgestellt. Ein kurzer #Thread: sechs Minister*innen und Staatssekretär*innen hat er aus der
letzten Regierung mitgenommen, einige aus der Vorvorgängerregierung von Youssef Chahed sind auch wieder dabei, u.a. der Sozialminister. Finanzen, Wirtschaft, Entwicklung und Internationale Zusammenarbeit werden in einer Art Super-Ministerium zusammengelegt.
Von den 28 Kandidat*innen sind acht Frauen - ohne nachgerechnet zu haben ist er da eher am oberen Ende der verschiedenen Regierungen seit 2011.