Was ich in der Querdenker-Community wahrnehme: Eine massive Überschätzung dessen, was ein einzelner Mensch leisten kann, und ein Unverständnis darüber, dass Wissenschaft immer Gemeinschaftswissen ist. Ich glaube, hier gibt es ein großes Missverständnis. (Thread)
"Ich höre nicht auf Autoritäten, ich denke lieber selber", das höre ich oft, speziell von Impfgegnern. Und das ist grundsätzlich ja wunderbar und lobenswert. Nichts daran ist falsch - wenn man es richtig macht.
"Selber denken" ist gut, aber es ist sinnlos, bei null anzufangen. Manche Dinge weiß man schon, auf denen muss man aufbauen. "Selber kochen" heißt auch nicht, neu zu testen, ob man Steine essen kann und ob Schwefelsäure eine gute Soße ist. Wir nutzen bereits bekanntes Wissen.
Niemand kann durch "selber denken" den Rest der Wissenschaft aushebeln. Das hat noch niemand gemacht. Auch nicht Revolutionäre wie Galileo oder Einstein. Alle Revolutionen haben das bisherige Wissen in das neue Denken miteinbezogen. Dafür muss man es aber erst mal verstehen.
Wenn man zusammenhanglos zurechtgebastelten Thesen dann aus wissenschaftlicher Sicht widerspricht, wird das oft als Arroganz ausgelegt: "Wie kannst du so sicher sein, ich habe halt eine andere Meinung! Und du sagst einfach, die sei falsch!" Übersehen wird dabei:
Wissenschaft ist nicht bloß die Meinung einer Person. Sie ist entstanden durch unzählige Menschen, die über Jahrzehnte oder Jahrhunderte ihre guten Ideen zu etwas zusammengefügt haben, was stabiler und komplexer ist als jede Theorie, die im Kopf einer einzelnen Person Platz hat.
Wer mit Zuversicht die wissenschaftlich begründete Sichtweise verteidigt, handelt daher eben genau nicht arrogant. Es geht eben genau nicht darum, dass ich meine Meinung von vornherein als wertvoller einstufe als die Meinung eines Querdenkers.
Um meine Meinung geht es nämlich überhaupt nicht - sondern um ein wissenschaftliches Gedankengebäude, errichtet nicht von mir, sondern von unzähligen Leuten, die darüber viel mehr wussten als ich. Erst dadurch entsteht Zuverlässigkeit.
Ich glaube, wir sollten diesen kollektiven, gemeinschaftlichen Aspekt der Wissenschaft stärker betonen. Dann wird klarer, warum simples einsames "Selberdenken" nicht in der selben Liga spielen kann wie ernsthaft betriebene Wissenschaft.
Oh, das hat jetzt weitere Kreise gezogen als erwartet. Wer solche Themen interessant findet, kann noch viel mehr darüber in meinem Buch nachlesen: brandstaetterverlag.com/buch/die-schwe…

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9 Aug
Dieses Video wirkt eigentlich nett, nachvollziehbar und sympathisch - ist aber wissenschaftsfeindlich und faktenverzerrend. Genau diese Mischung ist besonders gefährlich. Sehen wir uns das mal an.
Es beginnt mit der Feststellung, dass Querdenker nicht notwendigerweise Nazis sind. Ja, das ist wahr. Aber natürlich impliziert das sofort einen Vorwurf an die Gegenseite: "Die werfen uns unfairerweise vor, Nazis zu sein, also sind ihre anderen Argumente wohl auch unfair."
Dann kommt das Kernargument: Die Impfung schützt nicht perfekt vor Ansteckung und Weitergabe des Virus, sondern nur vor schwerem Verlauf. Also schützt man dadurch nur sich selbst, nicht die anderen. Daher ist es meine Sache, ob ich mich impfen lasse.
Read 12 tweets
30 Jul
Der Politikerbuch-Debatte würde es guttun, wenn man anerkennen würde, dass ein gutes Buch zu schreiben ziemlich schwierige, aufwändige Arbeit ist. Nein, das schüttelt man nicht neben einem Spitzenpolitikjob so nebenbei mal aus dem Ärmel. Niemand soll tun als sei das möglich.
Manche Leute schreiben nach Ende der Politikkarriere gute Bücher. Das ist toll. Wenn man aktiv in der Politik steht, kann man vielleicht lieblos seine Gedanken hinklatschen, klar passieren dann Fehler. Wozu das dann überhaupt? Lieblos hingeklatschte Bücher gibt es schon zu viele.
Und natürlich kann man die eigenen Gedanken von einem Profi zusammenfassen lassen. Das ist wohl eine gute Idee. Bruce Willis macht seine Stunts auch nichts selber. Aber dann schreibt bitte den Ghostwriter aufs Cover und spielt nicht falsche Tatsachen vor!
Read 4 tweets
24 Jul
Nein, die COVID-Impfung macht NICHT unfruchtbar! Offenbar ist dieses Gerücht noch immer ein Grund für junge Frauen, die Impfung zu meiden. Es ist verständlich, dass so ein Gedanke Angst macht. Aber da ist nichts dran. Es gibt KEINEN Grund zur Sorge. Lasst euch impfen! (Thread)
Es gibt keine Hinweise, dass es für Geimpfte schwieriger gewesen sein soll, schwanger zu werden. Tierversuche zeigten keine Auswirkung auf die Fruchtbarkeit. Es gibt nicht einmal einen plausiblen Mechanismus, der auch nur theoretisch verminderte Fruchtbarkeit nahelegen könnte.
Man weiß auch, woher das Gerücht kommt: Nicht von echten Beobachtungen, sondern aus einer ganz anderen Ecke. Es wurde behauptet, das Spike-Protein, das nach der Impfung produziert wird, sei einem Protein ähnlich, das für die Plazenta wichtig ist.
Read 11 tweets
22 Jul
"Klimaschutz darf nicht Verzicht bedeuten!" - Das ist ein furchtbares politisches Framing, dem gleich mehrere Fehler gleichzeitig zugrunde liegen. Wer so etwas sagt, kann in der Klimadiskussion nicht mehr ernst genommen werden. Ein Rant.
Zunächst: Tatsächlich wäre es naiv zu glauben, wir könnten das Klima retten, indem wir einfach ein bisschen verzichten. Genau wie man soziale Ungleichheit nicht mit Almosen für Bettler beseitigt, entkommen wir der Klimakrise nicht durch braven Verzicht. Es geht um Systemwechsel.
Angenommen, wir würden unser System weiterlaufen lassen, aber auf ein Drittel unseres Konsums verzichten. Das wäre eine radikale Einschränkung, die unsere Lebensqualität massiv verringern würde. Es wäre die schlimmste Wirtschaftskatastrophe, die es jemals gab.
Read 15 tweets
20 Jul
Für so etwas habe ich nur noch Abscheu übrig: Nein, natürlich gibt es keinen Grund zur Sorge. Aber solche Revolverblatt-Überschriften stürzen psychisch labile Leute in Panik und erzeugen dadurch echten Schaden. Das ist moralisch um nichts besser als Körperverletzung.
Im Untertitel steht tatsächlich: "Experten sind sich sicher: Schon 2022 wird er einschlagen." Im selben Artikel steht dann aber später: "2009JF1 fliegt wahrscheinlich an der Erde vorbei"
Wie kann man das schreiben, ohne zu erkennen, dass man hier einen dummen Fehler macht?
Es wird sogar erklärt: Höchstwahrscheinlich verfehlt der Asteroid die Erde - "Es sei denn, er würde von seinem Kurs abweichen." Aha. Ok. Und wenn der Großglockner morgen plötzlich aus grünem Käse besteht, wird ganz Österreich seltsam riechen. Was soll das?
Read 5 tweets
6 Jul
Ich freue mich: Österreich verabschiedet Erneuerbaren-Ausbau-Gesetz. Bis 2030 soll das Land nur noch Strom aus erneuerbaren Quellen nutzen. Kosten: 1 Milliarde Euro pro Jahr.
Darunter kann man sich schwer etwas vorstellen. Ist das viel? Nein, nicht wirklich. (Thread)
Die Dekarbonisierung der Stromerzeugung ist eines der wichtigsten Themen unserer Zeit. Das für 1 Milliarde Euro pro Jahr hinzubekommen, ist ein Schnäppchen. Das sind ca. 30 Cent pro Person pro Tag - nicht völlig egal, aber gut verkraftbar.
Versuchen wir, durch Vergleiche ein Gefühl für Größenordnungen zu bekommen: In der Pandemie hat Österreich über 30 Milliarden ausgegeben, der Gesamtschaden war ein Mehrfaches davon. Die Agenda Austria rechnet mit insgesamt 175 Milliarden Euro.
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