Liebe Followerinnen und Follower, mal wieder etwas Persönliches. Über den gerade verblichenen Charlie Watts und seine Band.

Sie wissen ja: Bitte scrollen Sie bei Nichtinteresse beherzt weiter.

Ein Thread.
Charlie Watts ist tot. Der Drummer der für mich größten (Rock)Band aller Zeiten. Warum die größte? Ich weiß es nicht.
Wenn man in den 80er Jahren aufwuchs, waren die Rolling Stones nicht gerade in aller Munde. Ich kam recht spät zur Musik, in einigermaßen fortgeschrittenen Teenagerjahren. Meine Nummer Eins war Peter Gabriel, danach lange nichts, danach ein wenig Sting oder Paul Simon.
Mit anderen Worten, Musik für den scheinbar anspruchsvollen Gymnasiasten, der aber nicht so cool war wie die Coolen, denn die hörten The Smiths und The Cure.
Aber eines Tages lieh mir ein Freund (er hörte The Smiths and The Cure) eine Scheibe der Rolling Stones, eine Kompilation: Hot Rocks. Mit Songs aus den Jahren 1964 bis 1971.
Bei introvertierten Menschen dauert es mit den Emotionen manchmal eine Weile, aber nach etwa drei Tagen war ich ausreichend elektrisiert. War das der Rock‘n‘Roll, von dem die Alten sprachen?
Ich kannte bis dato „Satisfaction“ und sonst nichts. Aber was mir hier geboten wurde, war unglaublich: Under my Thumb! Paint it Black! Brown Sugar! Sympathy for the Devil! Ich wusste nicht, dass das einmal Hits waren. Bald war jedoch jeder einzelne Hot Rocks Song ein Hit für mich
Alles klang natürlich anders als Musik der 80er. Klar, die Aufnahmetechniken hatten sich entwickelt, der Stones-Sound klang im Vergleich blechern oder dumpf oder beides. Aber da war etwas anderes. Ich will es Authentizität nennen. Ein Gefühl, dass die Band es bitter ernst meint.
Und die Bilder der Bandmitglieder zeigten mir, dass es ihnen offenbar recht egal war, wie sie aussahen. Anders als bei vielen Künstlern der 80er Jahre. Sie wirkten als Personen erstaunlich normal, eigentlich durchschnittlich.
Nur wenn man Bilder von der Bühne sah, war es anders. Da war ein Hunger, eine Unmittelbarkeit, die ich bis dato nicht kannte.
Die Rolling Stones begannen mich zu begleiten. Tag für Tag hörte ich die Songs. Ich versuchte, das Englisch zu verstehen. Ich hielt meine Tapes an, spulte zurück und hörte alles nochmal an.
Nach dem wievielten Versuch konnte ich endlich mit dem Bleistift „Oh Angie, don‘t you weep, all your kisses still taste sweet“ kritzeln?
Wenn man damals nach Informationen über Bands gierte, war alles nicht so einfach. Schließlich gab es noch kein Internet, jedenfalls nicht in der Form wie heute. Somit suchte man Stück für Stück nach interessanten Schnipseln.
Gut, es war bei den Rolling Stones nicht ganz so schwer, schließlich galten sie schon als legendär. Die meisten Informationen erhielt man aber immer noch über die Alben.
Und so kaufte ich sie mir. Die frühen Werke, auf denen 10 von 12 Liedern Coverversion der großen Blueshelden der Rolling Stones waren. Die Explosion „Out of our heads“ mit „That‘s how strong my love is“! Und „I‘m alright (live)“! (das muss ich gleich hören!!!)
Das großartige „Decembers Children“ (immer noch mit einem etwas versteckten Mick Jagger auf dem Cover), natürlich „Between the Buttons“, mit dem völlig unterschätzten „All Sold Out“, von Mick großartig ins Mikro gerotzt. Und viele mehr.
Und wo wir schon von Alben reden: hätten Sie gewusst, dass weder „Exile on Main Street“ noch „Sticky Fingers“ das beste Stones-Album ist? Nein? Es ist ein anderes. Denken Sie mal darüber nach.
Bei so einer Band gibt es viel zu entdecken, denn sie haben schon vieles probiert. Rock, Blues, Psychedelic, Country, und Werke, die ich nur schwer einordnen kann (Ist „Gimme Shelter“ wirklich ein Rocksong?)
Im Laufe eines Fan-Daseins entdeckt man natürlich auch, dass gar nicht jeder die eigene Lieblingsband gut findet. Manchen ist sie egal, andere hassen sie.
Wenn man etwas jünger ist, reagiert man darauf noch empfindlich oder beleidigt, aber sowas legt sich. Liebe Leute, SIE verpassen etwas, nicht ICH. (Hust)
Zugegeben, das erste Stones-Albun, dessen Veröffentlichung ich bewusst erlebte („Dirty Work“) kann man nicht mehr mit den Großtaten der Vergangenheit vergleichen. Genauso wenig wie die Alben danach.
Aber schmälert das die 20 (!) phänomenalen Jahre der Band? Nein. Und Phänomenales gab es reichlich:
Lieblingskünstler sprechen auch immer Gefühle junger Menschen an. Wie konnte man bei „I don‘t know why I love you baby“ keine Verzweiflung spüren, wo sie doch aus jeder Note tropfte?
Wie konnte einem bei „Heartbreaker“ nicht das Blut vor Wut kochen? Und warum wollte man mit „Start Me Up“ sofort aufspringen und direkt vor einer Bühne stehen?
Aber Gefühle sind so eine Sache, wenn man älter wird. Man vergisst sie nicht, aber sie verlieren ihre Schärfe. Und vielleicht war das auch bei der Band selbst so. Ich sah sie 1998 zum ersten Mal live und fand, dass sie knapp an ihrer eigenen Parodie vorbeischrammten.
Aber auch das war eine Phase, denn im Alter wurden die Stones souveräner. Sie mussten es nicht mehr jedem zeigen (obwohl Mick offenbar noch wollte). Sie waren nicht mehr relevant oder beeinflussten viele junge Bands. Aber sie demontierten sich auch nicht selbst.
Und irgendwann müssen sie sterben. Das ist nichts neues, zwei ehemalige Bandmitglieder sind schon lange unter der Erde, Brian Jones und Ian Stewart. Aber Charlie Watts ist der erste aktive Stones-Musiker, der die Band, wie Keith so schön sagte, „mit den Füßen voraus verlässt“
Bin ich traurig über diesen Tod? Ja. Bin ich schockiert? Nein. Ich habe in den letzten beiden Tagen meine alten Lieblinge wieder öfter gehört und sie kommen mir fast so frisch wie am ersten Tag vor. Nur ich bin es nicht mehr. Aber ist das ihre Schuld?
Auf Wiedersehen, Charlie. Du bist nicht weg. Du bist „just another Moonlight Mile down the road“.

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9 Sep
Ich muss mal ganz kurz etwas loswerden, Entschuldigung, es ist politisch.

Scrollen Sie gerne weiter, wenn Sie damit nicht behelligt werden wollen.
Ich bin jetzt in einem Alter, in dem ich ganz bestimmt für die CDU als Wähler interessant wäre. Auch sonst passt es zielgruppenmäßig. Als CDU würde ich da sagen:
„Heh, ein weißer CIS-Mann, solides Einkommen, in der Lebensart recht konservativ. Das ist was für uns, dem machen wir ein Angebot.“
Read 12 tweets
17 Apr
Gestatten Sie mir einen kleinen Aufregetweet. Nichts davon ist neu, Sie werden das alles irgendwo schon gehört haben, wahrscheinlich mehrfach.

Sie können im Bedarfsfall ja behende darüber hinwegscrollen.
Wissen Sie, ich halte nichts von Politikerbashing.
„Alle unfähig“, „Alle doof“, „Alle scheiße“, das ist einfach billig.
Politikerinnen und Politiker entscheiden Dinge. Auf Basis der ihnen zur Verfügung stehenden Informationen. Dabei machen sie manches richtig und manches falsch. Falsch vielleicht, weil sie nicht genügend Informationen haben, vielleicht weil sie einfach schlecht entscheiden.
Read 23 tweets
10 Mar
Gendergerechte Sprache.

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Ich bin gerade über einen Beitrag von @juliaruhs gestolpert, einer Volontärin beim Bayrischen Rundfunk. In einem Kommentar nimmt sie zum Thema "Gendern" Stellung.
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7 Jan
Amerika.

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Ich hatte keine Vorstellung von Amerika, weder positiv noch negativ. Es war mir einfach gleichgültig. An den Flug kann ich mich nicht erinnern, aber an den Moment, als ich aus dem Flugzeug stieg. Es war über 30 Grad warm, trotzdem mild. Dort begann meine Faszination mit dem Land.
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