1/ Künftig sollen ja diverse Anwendungen in der Mobilität, im Wärmebereich und in der Industrie direkt-elektrisch oder mit grünem Wasserstoff versorgt werden. Welchen Strommix sollte man dieser #Sektorenkopplung zuordnen? Hier ein 🧵 mit Gedanken zu drei verschiedenen Ansätzen.
2/ Ich sehe in der Literatur und der öffentlichen Debatte drei verschiedene Ansätze zur Bestimmung des Strommixes der Sektorenkopplung (und den damit verbundenen Emissionen und Erzeugungskosten):
1⃣ Grenzkraftwerk
2⃣ Durchschnittlicher Strommix
3⃣ System-Differenzen
3/ 1⃣ Grenzkraftwerk (bzw. marginales Kraftwerk): Hier ordnet man dem Stromverbrauch der Sektorenkopplung in jeder Stunde den Strom aus dem jeweils letzten Kraftwerk der Merit Order zu, also das Kraftwerk mit freien Kapazitäten. Hier wird der Stromverbrauch der Sektorenkopplung
4/ also als komplett als *zusätzlich* zum sonstigen Stromverbrauch definiert. Implizit muss dabei angenommen werden, dass der Strombedarf der Sektorenkopplung relativ gering ist, oder dass sehr viele gleiche Grenzkraftwerke zur Verfügung stünden. Diese Betrachtungsweise führt
5/ in der Regel dazu, dass der Sektorenkopplung Strom aus thermischen Kraftwerken zugeordnet wird (Erdgas oder Kohle), die zum jeweiligen Zeitpunkt eben das Grenzkraftwerk bilden - und dementsprechend emissionsintensiv sind.
6/ 2⃣: Durchschnittlicher Strommix. Hier wird zu einem gegebenen Zeitpunkt allen Stromverbrauchern jeweils der gleiche, durchschnittliche Strommix zugeordnet. Hier wird die Sektorenkopplung also nicht als zusätzlich betrachtet, sondern als "gleichberechtigter" Teil des gesamten
7/ Stromverbrauchs. Wird ein gegebener (heutiger / historischer) Strommix betrachtet, erfordert dies wiederum die Annahme, dass der Strombedarf der Sektorenkopplung klein ist. Wird dagegen ein Stromsektormodell mit endogenen Investitionen verwendet (capacity expansion model),
8/ funktioniert diese Berechnungsweise auch für sehr große Stromverbräuche künftiger Optionen der Sektorenkopplung. Gegenüber der Variante "Grenzkraftwerk" ist der Sektorkopplungs-Strom in der Regel weniger emissionsintensiv, da fluktuierende erneuerbare Energien, die in der
9/ Merit Order weit links stehen, anteilig ebenfalls berücksichtigt werden.
10/ 3⃣: System-Differenzen: Hier betrachtet man zunächst den Strommix eines Referenz-Systems ohne Sektorenkopplung für einen relevanten Zeitraum, z.B. für ein Jahr. Dann berechnet man den entsprechenden Strommix für den Fall mit Sektorenkopplung. Die Differenz aus beiden
11/ Betrachtungen ordnet man dann voll der Sektorenkopplung zu. System-Differenzen lassen sich korrekt nur mit Hilfe von Stromsektormodellen mit endogenen Kraftwerkskapazitäten berechnen. Hier wird der Strombedarf der Sektorenkopplung wiederum als *zusätzlich* zum bestehenden
12/ Stromverbrauch interpretiert, ähnlich wie bei der Methode "Grenzkraftwerk". Allerdings werden dabei durch die Sektorenkopplung bedingte Veränderungen des Kraftwerksparks mit berücksichtigt. Wenn der zusätzliche Stromverbrauch sehr flexibel ist (z.B. durch nachgelagerte Wärme-
13/ oder Wasserstoffspeicher), kann dies aber dazu führen, dass vorteilhafte Änderungen im Strommix (z.B. eine bessere Auslastung bzw. bessere Systemintegration fluktuierender erneuerbarer Energien) voll der Sektorenkopplung zugeordnet werden. System-Differenzen können dabei
14/ nicht nur für die Stromerzeugung, sondern auch für die jeweils installierten Stromerzeugungs- und Speicherkapazitäten sowie für die gesamten Systemkosten definiert werden.
15/ Meines Wissens gibt es noch keine etablierte Konvention, welche Methode zur stromseitigen Bewertung künftiger Optionen der Sektorenkopplung zugrunde zu legen ist. Relativ klar dürfte sein, dass sich die Methode "Grenzkraftwerk" jedenfalls nicht für die korrekte Bestimmung des
16/ Strombezugs von großskaliger Sektorenkopplung in Zukunftsszenarien eignet.
17/ Die beiden anderen Methoden "durchschnittlicher Strommix" und "System-Differenzen" halte ich beide für valide, und sie können komplementäre Einsichten liefern. Die Variante "durchschnittlicher Strommix" dürfte dabei eher der Perspektive von Akteuren in künftigen
18/ Energieszenarien entsprechen; die Variante "System-Differenzen" beleuchtet dagegen eher die mit der zunehmenden Sektorenkopplung einhergehenden Änderungen im Energiesystem.
19/ Mit unserem quelloffenen Stromsektormodell #DIETER haben wir übrigens kürzlich diese beiden letztgenannten Varianten 2⃣ und 3⃣ für das Fallbeispiel "Bereitstellung von grünem Wasserstoff an Tankstellen" mal exemplarisch durchgespielt. Dabei zeigte sich, dass sowohl bei den
20/ Emissionen als auch bei den Kosten deutliche Unterschiede zwischen den beiden Varianten auftreten können. Mehr Infos dazu hier doi.org/10.1038/s41598…, siehe auch Supplementary Infromation.
21/ Vereinte Energie-ModelliererInnen: wenn ihr hierzu andere oder ergänzende Gedanken habt, oder dieses Thema anderswo schon verteift diskutiert wurde, freue ich mich über eine Rückmeldung!

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25 Aug 20
1/ Hi #energytwitter, I'm excited to share my thoughts on the changing role of #electricity #storage in the #renewable #energy transition in my new @Joule_CP Commentary! @CellPressNews 🔋

doi.org/10.1016/j.joul…

A little thread ⬇️
2/ I discuss three strands of the literature, and illustrate how the main driver for (bulk) electricity storage deployment shifts from taking up renewable surplus generation to supplying peak residual load when the renewable share increases (and what changes with sector coupling)
3/ I do so with residual load duration curves (RLDC) from a stylized #opensource model. The RL in one hour is the electric load during this hour, minus the potential generation of variable renewables. A RLDC sorts all hourly RL values of a full year in descending order🤓
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