🧵
Ein paar Worte zu "The Premonition", auch wenn ich gerade erst zu 36% durch bin.

Die ersten zwei Kapitel handeln von @drcharitydean und davon, wie man sich mit Prävention unbeliebt macht. Es geht also u.a. um das Präventionsparadox.

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Michael Lewis stellt zwei Episoden aus Dr. Deans Arbeitszeit als Public Health Officer von Santa Barbara County gegenüber. Einen Ausbruch von Meningitis B an der University of California Santa Barbara und einen vorhergesagten Erdrutsch und die Evakuierung eines Pflegeheims.
An der UCSB gab es einen Meningitis-Fall, der zuerst vom Labor nicht als Meningitis bestätigt werden konnte. Der Autor führt die Leser hier in das kleine 1&1 der Diagnostik von Infektionskrankheiten ein. Quasi:
"Wenn Ebola als Möglichkeit auf der Liste steht, aber die am wenigsten wahrscheinliche Möglichkeit ist, dann behandele die Krankheit wie Ebola. Denn wenn es Ebola ist und du hast nicht gleich mit der Behandlung angefangen, sind die Folgen unumkehrbar."
Die Meningitis wurde im Endeffekt dann doch auch vom Labor bestätigt, aber Dr. Dean hatte sich damals dagegen entschieden, das Ergebnis abzuwarten um sich abzusichern. Sie entschied sich auch gegen die Handlungsempfehlungen der CDC, die abwarten wollte.
Sie entschied sich auf ihr eigenes Gefühl, die eigene Erfahrung und die des behandelnden Arztes zu vertrauen.
Bei dem ersten diagnostizierten Fall mussten die Füße amputiert werden.
Wenn auch sicherlich viele nur leicht erkrankt wären, gibt es keinen Grund die Krankheit als solche auf die leichte Schulter zu nehmen.
Meningitis wird durch Körperflüssigkeiten übertragen. Man kann sich also gut vorstellen, dass das, was sie tat - im Prinzip jungen Menschen ein aktives und nicht monogames Sexualleben zu unterstellen - den einen oder anderen Kamm aufgestellt hat.
Aber auch die Uni entschied sich schnell zu handeln. So wurden Treffen und Veranstaltungen abgesagt, das "Greek System" also Studentenverbindungen und ihre Aktivitäten, quasi auf Null runtergefahren und es wurden medikamentöse prophylaktische Maßnahmen durchgeführt.
Quasi:
"Be fast, have no regrets."

Es gab dann keine weiteren Fälle von Meningitis B auf dem Campus.

Hätte es weitere Fälle geben können? Man wird es nie wissen.

Aber wenn, wäre es möglicherweise auch nicht bei einem nun lebenslang behinderten jungen Mann geblieben.
Beim zweiten Vorfall ging es um Erdrutsche und der ist ziemlich Close to Home. Ihr werdet sehen.

en.wikipedia.org/wiki/2018_Sout…

Sie waren die Folge von Waldbränden, die Vegetation zerstörten, die Hänge befestigte.
Hier kam es im Vorfeld wohl zu dem Unglauben, der häufig vor Katastrophen zu finden ist. Der Himmel ist doch schön blau. Man 'weiss es besser'.

Der Regen, und damit der Erdrutsch, kam. Ob die Opfer des ersten Erdrutsch vermeidbar gewesen wären? Möglicherweise schon.
Denn alle Berechnungen und Modelle haben den Verlauf des Erdrutschs sehr präzise vorhergesagt.
Im oder am Gebiet des ersten Erdrutsches lag ein Pflegeheim, das völlig verschont worden war.

Nun wurde aber weiterer Regen und damit ein möglicher, weiterer Erdrutsch vorhergesagt. Und das Pflegeheim lag exakt im Weg der neuerlichen Vorhersage.
Diesmal entschied Dr. Dean erneut für Vorbeugung und gegen Abwarten und übte auch Druck auf die Leitung des Pflegeheims aus. Diese protestierte, dass sie sehr fragile Menschen hätten, die die Evakuierung wohl nicht überleben würden.
Sie hatten Recht. Es gab mehrere Todesfälle während und wohl auch durch die Evakuierung.
Und es gab dann keinen zweiten Erdrutsch.

In diesem Fall war die Prävention nachweislich die weniger gute Handlungsweise.
Wäre die Vorhersage allerdings eingetroffen, wäre die Zahl der Opfer weitaus höher gewesen.

Wie gesagt, das ist Close to Home, weil man sich kürzlich bei uns für Abwarten entschied: taz.de/Ertrunkene-Men…
Weil das Land auch weit im Vorfeld bereits Regularien erlassen hatte, deren Rahmenbedingungen von der Annahme aus gesetzt wurden, dass in 99,9% aller Fälle nichts passiert.

Wenn aber etwas passiert, sind Opfer unvermeidlich. Einkalkuliert.
Man leistet sich Opfer, weil man sich die Kosten und die Übernahme der Verantwortung für vorausblickende Maßnahmen nicht leisten will.
Zitate die ich heute Nacht schon mal gepostet hatte:

Und zu den Ereignissen an der UCSB:

Der nächste Teil des Buchs ist für mich besonders interessant. Denn es beschäftigt sich mit der Frage, wie - aus Erfahrungen aus der Spanischen Grippe - der Eindruck entstehen konnte, nichtpharmazeutische Interventionen brächten nichts.
Ich gebe mal eine kurze Antwort (die falsch sein kann): Weil die (medizin)historische Aufarbeitung der Spanischen Grippe zu lückenhaft war und selten das größere Bild betrachtet wurde.
Und das - so meine Vermutung - weil kein Geld reingesteckt wurde.
Für die in der letzten Reihe:

Finanziert Grundlagenforschung in den Geschichtswissenschaften. Es ist eine Investition in die Zukunft.
Okay, zurück zum Thema, warum es zu der Ansicht kam, nichtpharmazeutische Interventionen brächten nichts:

Die am Stärksten von der spanischen Grippe gebeutelte US-Stadt, war Philadelphia: 12000 Tote in nur 5 Wochen.
Hier führte man mannigfaltige Maßnahmen ein: man schloss Schulen, untersagte Veranstaltungen, erließ Maskenverordnungen etc. etc. etc.

Aber man hatte eben trotzdem die höchste Todesrate in den USA.
Daraus wurde dann die Lehre gezogen: Naja, das Schließen der Schulen, Masken, Social Distancing ... das hat alles ja gar nichts gebracht, sondern es schadet nur (indem es der Wirtschaft schadet).
Was aber nicht passiert ist, was bis in die 2000er Jahre hinein _NICHT_ passiert ist: Dass man die Reaktionen von Großstädten, ihre Maßnahmen und deren Ergebnis miteinander verglichen hätte.
Wir haben eine Pandemie, bei der 2%-2,5% der gesamten Weltbevölkerung stirbt.

Aber hinterher findet es niemand für nötig, das Geld in die Hand zu nehmen und herauszufinden, wie man das für die Zukunft verhindert.
Fördert. Grundlagenforschung. In. Den. Geschichtswissenschaften.
Es scheint auch so gewesen zu sein, dass die Botschaft "Hach, naja, da kann man halt nichts machen" sehr gerne gehört worden zu sein scheint. Denn wenn man nichts machen kann, muss niemand unliebsame Entscheidungen treffen:
Entsprechend schwierig war es, als man den Vergleich der unterschiedlichen Inventionen dann hatte, die festgefahrene Annahme durch eine zu ersetzen, die sich tatsächlich an der Realität orientierte:
pnas.org/content/104/18…
Und warum waren die Maßnahmen in Philadephia nicht oder nicht hinreichend wirksam?

Wir - sollten - es inzwischen alle wissen. Wir haben es vor der Haustür gesehen. *deutet nach England*
Sie kamen zu spät.

Wenn man die Inzidenzen nicht niedrig hält, hat man es sehr, sehr viel schwerer, sie wieder einzufangen.

Vielleicht brauche ich das als Buzzer:
Und wenn man versucht, die Inzidenzen von einem Peak wieder runterzubringen, dauert es auch sehr, sehr lange.

Diese Analysen wurden dann in den 2000er Jahren aber durchgeführt und sie vereinten sich mit einem anderen Thema des Buchs: Modellierung.
Wie also mit dem medizinhistorischen Wissen das wir _hatten_, und zwar seit über zehn Jahren, dann ein Tegnell, ein Streeck etc. hinstellen, und finden, es wäre eine gute Idee, die Pandemie erst mal laufen zu lassen ... ich habe keine Ahnung.
Die Rechnung ist wirklich ziemlich einfach: Hart und früh handeln. Um so kürzer ist die Belastung für Menschen und Wirtschaft und um so vorhersag- und kontrollierbarer.
Aber, dafür braucht man auch jemanden, der die undankbare Aufgabe der Verantwortung übernimmt.
Der hinterher immer der Gelackmeierte sein wird. Weil die Legende immer die sein wird, dass die Maßnahmen 'eigentlich gar nicht notwendig gewesen wären'. Siehe eine gerne weitergetragene Legende über das Y2K-Problem.
There is no glory in prevention.

Over and out.

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17 Oct
🧵 So, ich muss noch was, was Letztes, zu der Kausa "Autoren lassen sich für Verlagsinteressen benutzten" loswerden, bevor ich endlich die Geräte ausmache. Ich bin ziemlich müde, also seht mir nach, wenn das nicht mehr so präzise ist, wie ich es gerne hätte.
Und zwar die unfuckinfassbar ignorante, gewissenlose und gefährliche Rhetorik.

Mir ist schon nicht ganz klar, wie man da nichts merken kann. Bei einigen Unterzeichnern hätte ich eigentlich erwartet, dass sie was hätten merken müssen.
Aber wenn man es sich nicht mit dem Verlag verderben will und der doch so nett fragt. Oder so. 🙄

Wie immer fallen sehr ähnliche Formulierungen jener auf, die in das Narrativ eingekauft haben.
Für mich immer ein Zeichen, dass das Thema nicht wirklich durchdrungen wurde.
Read 42 tweets
17 Oct
Es passiert mir selten, aber ich bin einfach nur noch sprach- und fassungslos. Es geht darum, dass sich Bibliotheken das Recht anmaßen, jeJegliches Recht angemessen für die eigene Arbeit vergütet
Dazu dann, das dahinter teils die gleichen Personen stehen, die sich mit Händen und Füßen dagegen wehrten, das der 'Verlagsanteil' der eigentlich den Autoren zustand, auch an diese ausgeschüttet wird. Denen liegt jetzt auf einmal die 'faire Vergütung' von Autoren am Herzen.
Ja. Das soll glauben, wer will.

Niemand ... _niemand_ in der Verlagsbranche gibt sechsstellig Summen für ganzseitige Anzeigen aus, um für die gerechte Vergütung von Autoren zu streiten.

Dann könnte man vor der eigenen Tür anfangen und mal alle Buy-Out-Verträge rauswerfen.
Read 6 tweets
17 Oct
Ich wäre schon neugierig, wie viele der Unterzeichner zu Hause kein gut gefülltes, elterliches Bücherregal hatten, deren Verwandte auch zu Geburtstagen und Weihnachten nicht reichlich Bücher schenkten und deren Bücherwünsche außer der Reihe nicht erfüllt wurden, weil zu teuer.
Für die Bibliotheken und zwar auch die kleinsten und kräpeligsten Dorfbibliotheken nicht zusätzlich mit Büchern versorgten, sondern die Grund- und nahezu einzige Versorgung mit kulturellem Input jenseits des Fernsehens.

Könnte wetten, hoch ist ihre Anzahl nicht
Weil natürlich Arbeiterkinder auch die absolute Minderheit in der Kulturbranche sind. Stallgeruch und so. ¯\_(ツ)_/¯
Read 4 tweets
16 Oct
Was mich bei den Zukunftskonferenzen des Börsenvereins immer angefuchst hat: dass man Autoren und Autorinnen nicht automatisch als Teil der Branche mitdachte.
Aber sieh an, wann man sie plötzlich mitdenkt.
Oder eher: wann sich Autor:innen für Verlagsziele missbrauchen lassen.
Ob das personell die gleichen Leute sind, die in der VG Wort den Verlagen so gerne die Hälfte vom Autor:innen zustehenden Geld abgeben wollten, weil Verlage doch immer so gut zu uns sind und wir sie deswegen unterstützen sollten?
Nachdem ich mir nun die Namen durchgelesen habe: ja, sind zumindest teilweise die gleichen Leute.
Read 7 tweets
16 Oct
Phew. Der Abschnitt über den Meningitis-B-Ausbruch an der UCSB und die eher unrühmliche Rolle des CDC darin ist auch extrem interessant.
amzn.to/3j3TpnK People were far less likely to blame a health officer for wh
Ist auch im Bezug auf die Pandemie relevant und setzt nochmal Vorstösse wie den des EBM-Nerzwerks in Kontext, die erst mal Daten abwarten wollen, statt zu tun.

Und das gesamte Präventionsparadox sowieso.
One intervention was not like the others, however: when you
Read 7 tweets
14 Oct
Ich glaube den nächsten "Der Tod gehört zum Leben dazu"-Hanseln trete ich ungespitzt durch die Wand.

Der wirklich allervollpfostigste Spruch für Menschen, die mit drastisch reduzierem Lebensrisiko aufgewachsen sind, aber das total lästig finden. Wegen Verantwortung und so. 🙄
Irgendwann mache ich einen Freizeitpark auf. Keine Geländer nirgends, keine Lifeguard, abends heiteres Raten "in welchem Gericht sind die Salmonellen denn heute", Klimaanlage & Warmwasser wird nicht gewartet, weil Listerien & Legionellen sollen sich auch wohlfühlen.
Die Aufzüge haben keine Sicherheitsklammern ... Ach, ich führe einfach Paternoster und Aufzüge ohne Innentür dort ein. Und auf dem ganzen Gelände wird der Strom ohne Schutzleiter verlegt. Der Pool wird auch nicht gechlort.
Read 5 tweets

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