Die "Gesetze" des Journalismus und die der Wissenschaft sind an vielen Stellen in Konflikt: Journalismus muss aktuell sein und sensationelles vermelden, Wissenschaft bedächtig und bescheiden. Halbwegs verlässlich ist auch nur, was nach Jahren Eingang in Lehrbücher findet; davor..
...kann sich jede Theorie und jedes experimentelle Ergebnis in Luft auslösen. Wissenschaftlicher Fortschritt ist ein Prozess, der vor allem aus Machen, Aussortieren und Korrigieren von Fehlern besteht, und Bestätigen und Zusammenfügen von Dingen, die andere zuvor gemacht haben.
Das meiste davon ist nach journalistischen Kriterien langweilig, und der "aufregende" Rest vermittelt das Bild, dass die Wissenschaftler ständig Falsches sagen und laufend ihre Meinung ändern und man sich auf Wissenschaft nicht verlassen kann.
Es gibt hervorragende Wissenschaftsjournalisten, die mit großer Sorgfalt und Geschick diese Fallstricke umgehen, aber selbst die Besten können sich diesem fundamentalen Problem nicht völlig entziehen, und viele versuchen es nicht einmal.
Das Problem betrifft aber nicht nur Journalisten, sondern auch Wissenschaftler, die sich nicht selten dazu hinreißen lassen, ihre Ergebnisse zu früh und sensationalisiert zu berichten, was aber auch Karrieren beenden kann.
Mit dem Internet ist vieles schlimmer, aber auch vieles besser geworden. Man kann in Sekunden auf einen Großteil des Weltwissens zugreifen, statt erst mal in die Bibliothek zu gehen, Briefe zu schreiben oder um die Welt reisen zu müssen, um einen Experten zu fragen.
Schier unfassbar ist aber auch die Menge des Wissens geworden, die wir angehäuft haben, und die Spezialisierung geht in solche Tiefen und hat unglaubliche Wissenssilos errichtet, die den Austausch zwischen den Wissenschaften extrem erschweren.
Im Prinzip ist das der Turmbau von Babel, wo alle plötzlich verschiedene Sprachen sprechen und sich nicht mehr verstehen. Gut, ganz so schlimm ist es nicht, und viele Leute arbeiten auch daran, Dinge aus den Silos nach oben zu holen und zu einfacher handhabbar zu machen, aber...
...mich beschleicht in letzter Zeit zunehmend das Gefühl, dass wir so viel mehr wissen, als wir zusammenfügen können und jede Menge wissenschaftliche Durchbrüche auf uns warten, wenn wir allein nur richtig zusammenfügen, was bereits erforscht ist.
Meine Hauptinteressen liegen im Bereich der Kognitionswissenschaften, was ein unglaublich weites Feld ist, aber ich bin auch in fünfzig Jahren ganz schön rumgekommen in verschiedenen Disziplinen.
Was mir gelegentlich auffällt ist, dass selbst die Leute, die ich zu den hundert größten Wissenschaftlern der Welt und zu den Top 5 ihrer Disziplin zählen würde, mit Problem hadern, zu denen in einer anderen Disziplin hervorragende Modelle oder ...
...intellektuelle Werkzeuge oder Erkenntnisse gibt. Ich sehe auch einen Trend zu mehr Interdisziplinarität, weil in vielen Bereichen die Wissenschaft irgendwie nicht so richtig voranzukommen scheint, etwa die Physik.
Überraschenderweise hat das Thema Information und Informationsverarbeitung Eingang in viele Disziplinen gefunden, und zwar nicht nur als Werkzeug und zur Simulation, sondern auch zu Beschreibung von Naturphänomenen.
Als jemand, der sich fast sein ganzes Leben mit Informationsverarbeitung beschäftigt hat, finde ich mich etwas unerwartet in einer Situation wieder, wo diese Erfahrungen plötzlich an Stellen relevant werden, die ich nicht erwartet hätte, etwa in der Physik oder Biologie.
Wir leben in einer superspannenden Zeit. Manchmal wünsche ich mir, noch jahrhundertelang Dinge lernen und ergründen zu können, aber ich bin auch jeden Tag dankbar, jetzt und heute zu leben und in Weltwissen zu baden, wie ich es mir in der Schule niemals hätte träumen lassen.

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21 Nov
Wie gut ist man nach durchgemachter Sars-Cov-2 Infektion vor Reinfektion geschützt? Dieser Artikel legt nahe, dass nach nach 8 Monaten noch rund 75% "Schutz" besteht, nach 16 Monaten noch 50%. thelancet.com/journals/lanmi… Image
Das sieht für mich etwas besser aus als der Schutz durch Impfung, aber da die Pandemie jetzt seit 20 Monaten läuft, haben in 2020 Infizierte wahrscheinlich nur noch unzureichenden Schutz vor Reinfektion, wenn sie danach keine Impfung erhalten haben.
Selbst wenn man das Problem ignoriert, dass leichte Verläufe wohl von vornherein unzureichenden Schutz bieten, bedeutet das aus meiner Sicht, dass auch Durchinfektion keine langfristige Herdenimmunität erzeugt und wir uns langfristig auf Covid19-Wellen...
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19 Nov
Die Regiernden sollten es jetzt unterlassen, auf Ungeimpften herumzureiten; die Regierungen haben die Impfungen organisiert und damit die viel zu niedrigen Impfquoten zu verantworten. Außerdem wissen wir jetzt, wie lange die Impfungen gut schützen, und das sind einige Monate.
Was bedeutet, dass es Sinn macht, Leute nach sechs Monaten als praktisch ungeimpft zu betrachten, auch, wenn sie noch immer Schutzfaktor 2 vor Ansteckung und 4-6 vor Tod haben, gegenüber Faktor 10-50 vor Ansteckung 3 Wochen nach der letzten Impfdosis.
Wer Moderna erhalten hat, dürfte deutlich besser und länger geschützt sein, weil Moderna extrem hoch dosiert war; wer lange zurückliegend Astra oder Johnson hatte, sollte zur Sicherheit damit rechnen, dass vielleicht gar kein messbarer Schutz mehr da ist, auch wegen Delta.
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19 Nov
Wage mal eine Prognose, was ich für den wahrscheinlichsten Verlauf halte: Die Hälfte der Bundesländer wird die nächsten 4-8 Wochen ohne Lockdown durchhalten, der Rest wird in den nächsten 4 Wochen nicht darum herumkommen, etwas zu machen.
Ich vermute aber auch, dass es auch ohne Lockdown nicht endlos in die Höhe gehen wird, weil irgendwann die Leute von sich aus nicht mehr vor die Tür gehen werden und vieles zum Erliegen kommt, weil etwa zu viele Lehrer oder Schüler oder Mitarbeiter in Quarantäne sind.
Niemand weiß genau, wann das Ende der Fahnenstange erreicht ist, aber ich würde so denken um die 1000 herum wird es eng für ein Bundesland, wobei das stark davon abhängt, wie stark Ü60-Jährige betroffen sind.
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18 Nov
Zeit für ein paar deutsche Covid-Zahlen: Inzidenzen auf Rekordniveau bei 336 nach Meldedatum und 362 (rot) nach Publikationsdatum. Zahl der Todefälle (grün/blau) steigt auf 1340 in den letzten 7 Tagen.
Generell kann man sagen, dass man die aktuellen Inzidenzen ungefähr durch 2-3 teilen kann, um sie mit den Inzidenzen früherer Wellen zu vergleichen.

So sah es im Vergleich vor genau einem Jahr aus: Inzidenz 155, Todesfälle 1195 in den letzten 7 Tagen:
Hier die Inzidenzen nach Altergruppen. Sie steigen in allen Altergruppen stark an, aber die Inzidenz bei den stark durchgeimpften Älteren ab 60 am niedrigsten.
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18 Nov
Die Maskendeals waren wohl völlig legal, die „Vermittler“ kriegen die beschlagnahmten Provisionen zurück. Ich finde das richtig, denn ein geldgieriges Arschloch zu sein ist nicht strafbar. Es zeigt aber auch die weitgehende Inkompetenz der Parlamentarier… sueddeutsche.de/politik/corona…
…und der Staatsanwälte, die hier ahnungs- und kopflos und völlig überzogen Leute kriminalisiert und verhaftet haben, die nichts verbotenes gemacht haben. Dass die „Maskenvermittler“ moralisch Drecksäcke sind, ist nicht strafbar.
Die Konfusion kommt auch daher, weil kaum jemand die Gesetze kennt, die den Abgeordnetenstatus definieren; man fällt beim Ausfüllen von Formularen oft durchs Raster; es ist kein öffentlicher Dienst, und man ist auch kein Beamter oder Angestellter, kein Soldat, …
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17 Nov
Habt ihr das mit den ganzen Krisen bei VW mitbekommen, und was da im Rahmen der Elektromobilität auf Deutschland zukommt? ndr.de/nachrichten/ni…
Kurz gesagt: Das neue Tesla-Werk bei Berlin wird Elektroautos drei mal so schnell produzieren, wie VW es derzeit tut, und mit viel weniger Leuten, weil alles auf mehr Automation ausgelegt ist.
Hätte nicht gedacht, dass Tesla bereits so viel Automatisierungs- und Produktivitätsvorsprung hat, aber der VW-Chef sieht das so und ist entschlossen, aufzuholen, und wenn VW demnächst Autos so wie Tesla produziert, muss es entweder den Absatz stark ausweiten oder ...
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