Die EU plant die #Chatkontrolle, eine anlasslose, flächendeckende Überwachung elektronischer Kommunikation. Beim Nachdenken darüber kam mir die Frage in den Sinn: Was macht das eigentlich mit den Leuten, dieses ständige Sich-beobachtet-Fühlen? 🧵 zur psychologischen Forschung |1
2| Um es gleich vorwegzunehmen: Beobachtet werden ist keine Kleinigkeit, sondern ein profunder Eingriff in fundamentale kognitive Abläufe. Ich sehe mich selbst, schreibt Sartre, weil ich weiß, dass andere mich sehen. In den Augen der Anderen werden wir uns unserer Selbst bewusst.
3| Steckt man Leute in fMRI-Scanner, kann man diesen Effekt sichtbar machen. Unter Beobachtung werden für dieselbe Handlung andere Hirnregionen aktiviert, verstärkt z.B. Bereiche für soziale Kognition, motorische Kontrolle und die Neuorientierung von Aufmerksamkeit. Q1
4| Gesehen werden, ändert unser Fühlen und Handeln. Denker von Platon bis Bentham sagen uns, das sei eine gute Sache. Nur unter den Augen des Kollektivs verhalte sich der Mensch, wie er soll. Sichtbar sein -- soziale Kontrolle -- als Grundbedingung einer moralischen Gesellschaft.
5| Platon und Bentham haben die Empirik durchaus auf ihrer Seite. Wer sich anonym und unbeobachtet wähnt, verhält sich eher antisozial und unmoralisch. Probanden betrügen dann mehr in Studien, sogar wenn man nur das Licht etwas abdunkelt oder ihnen eine Sonnenbrille aufsetzt. Q2
6| Anderes Experiment: Mitarbeiterküche mit Selbstbedienung. Wer Milch nimmt, soll Geld in eine Kasse werfen. Neben der Kasse hängt jede Woche ein anderes Poster, abwechselnd Bilder von Blumen oder Augen. Am Ende der Woche wird gezählt, wie ehrlich die Leute beim Bezahlen waren.
7| Die Grafik zeigt, was passiert: In Wochen mit Augen-Postern werfen die Leute deutlich mehr Geld in die Kasse. Dabei findet hier nicht einmal eine tatsächliche Beobachtung statt. Ein Bild genügt und wir fühlen uns beobachtet. Wir verhalten uns prosozialer, hier: ehrlicher. Q3.
8| Das funktioniert im Prinzip auch in der echten Welt. In einer Studie reduzieren Schilder mit Augen-Abbildungen Fahrraddiebstähle in Kriminalitäts-Hotspots um 62% (Q4). Eine Meta-Analyse identifiziert in einigen Settings 24%-28% weniger Kriminalität durch Videoüberwachung (Q5).
9| Mit solchen Argumenten ließe sich eine stringente Überwachung durchaus verteidigen, so z.B. in China, wo weitreichende staatliche Überwachung gepaart mit einem auf Reputation zielenden Social-Credit-System angeblich dem Schutz einer moralischen und sicheren Gesellschaft dient.
10| Dass das zu einfach gedacht ist, daran erinnern uns Autoren wie Orwell und Foucault. Sie warnen, Überwachung führe zu Selbstzensur und Konformität auf Kosten von Fortschritt und Individualität. Für Foucault wirkt internalisierte Selbstzensur funktional wie staatlicher Zwang.
11| Auch dafür haben wir ein paar empirische Daten. Die Grafik zeigt, wie oft Wikipedia-Seiten zu politisch sensiblen Themen in den Monaten vor und nach den Snowden-Enthüllungen zur weitreichenden Überwachung der US-amerikanischen Bevölkerung im Juni 2013 aufgerufen wurden. Q6
12| Eine andere Studie weist nach, dass auch Google-Suchanfragen mit persönlich oder politisch sensiblen Begriffen im Zuge der Snowden-Enthüllungen massiv zurückgegangen sind (Q7). Die Grafik zeigt: Auch Befragte gaben an, sich daraufhin stärker selbst zu zensieren (Q8).
13| Studien zur Überwachung am Arbeitsplatz ergeben, dass Überwachung zu Stress und psychischer Belastung führt. Je invasiver die Überwachung, desto größer außerdem der wahrgenommene Autonomieverlust. Unklar bleibt, ob sich das so auf andere Lebensbereiche übertragen lässt. Q9
14| Insgesamt haben wir für diese Schattenseiten der Überwachung nur wenige Daten aus einer psychologischen Perspektive. Die genannten Studien suggerieren aber deutlich, dass Menschen, die sich beobachtet fühlen, nicht nur antisoziales und unmoralisches Verhalten unterdrücken.
15| In Gefahr gerät auch unsere mentale Gesundheit und die empfundene Freiheit, die schwierigen und unangenehmen Fragen zu stellen, die eine Gesellschaft nicht bloß stabil, sondern auch entwicklungsfähig machen. Das, scheint mir, dürfte die EU noch etwas intensiver reflektieren.

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12 Nov
Dass Gene nicht bloß unsere Augenfarbe, sondern auch komplexe Aspekte des Lebens wie Bildungserfolg erheblich prägen, wissen wir längst aus Zwillingsstudien. Jetzt enthüllen wir langsam konkrete Genvariationen, die dafür verantwortlich sind. Was machen wir mit diesem Wissen? |1 Image
2| Die blauen Linien in der Grafik (Q1) stehen für die Erblichkeitsschätzungen einzelner Merkmale aus Zwillingsstudien. Orange steht für die Erblichkeit, die wir mit heutigem Wissen aus Genanalysen auf Bevölkerungsebene mit teils Millionen von Probanden (GWAS) errechnen können.
3| Beispiel: Zwillingsstudien suggerieren eine Erblichkeit von Bildungserfolg von ~40%. ~12% Erblichkeit können wir heute schon auf additive Effekte konkreter Genvarianten zurückführen. Vor ein paar Jahren waren es bloß ~2%. Dank immer größerer Samples wächst unser Wissen rasant.
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27 Oct
Alle Menschen haben Vorurteile. Ob wir wollen oder nicht, das Gehirn überträgt wahrgenommene Muster auf Menschen, bevor wir sie als Individuen erleben. Unklar ist, wie groß dieser Effekt in der Praxis ist. Eine schöne neue Studie über "erste Eindrücke" geht der Frage nach. |1
2| Im Fokus steht die Frage, wie viel eines ersten Eindrucks von Gruppenzugehörigkeiten (hier: nationale Herkunft als Proxy für Kultur) abhängt und wie viel von individuellen Faktoren der Beteiligten. Grundlage sind 2 Experimente mit 24.886 Bewertungen zu 13 einzelnen Merkmalen.
3| Hier das Resultat: Gerade einmal 3,2 % der Varianz wird von den Herkunftsvariablen erklärt, 29 % von Eigenheiten der Bewerter, 16 % von Eigenheiten der Bewerteten. Anders gesagt: Erste Eindrücke sind hier extrem individuell und hängen nur marginal von kultureller Herkunft ab.
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19 Oct
Schlafmangel, freiwillig und unfreiwillig, ist ein echtes Problem. Das ist Teil 2 meiner kleinen Werbekampagne für den Schlaf. Auch dieser Teil enthält wieder einen guten Grund und einen kleinen Tipp für guten Schlaf. Zum Einstieg aber eine Statistik: Schlafmangel und BIP (Q1) |1
2| Unser guter Grund heute: Schlafmangel macht dick. Mutmaßlich. Die Korrelation ist schon mal deutlich (Bild, Q2). In einer Metastudie war 1 verpasste Stunde Schlaf pro Nacht mit ca. 1,4 kg Zusatzgewicht assoziiert. Die Kausalität ist noch unklar, beide Richtungen sind möglich.
3| Studien haben aber schon einige Mechanismen identifiziert, wie Schlafmangel eine solche Gewichtszunahme auslösen könnte (Bild), darunter hormonale Veränderungen, die hungrig machen. Experimente ergeben: Wer weniger schläft, isst nicht nur mehr, sondern auch ungesünder (Q3).
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17 Oct
Der Mensch ist das vielleicht einzige Lebewesen auf dem Planeten, das freiwillig regelmäßig auf Schlaf verzichtet. Die Hälfte der Leute schläft 6h oder weniger pro Nacht (Q1). Jeder weiß (oder ahnt jedenfalls), dass das keine gute Idee ist. Ein bisschen Werbung für den Schlaf. |1 Image
2| Anders als sonst wird das hier kein langer Thread, sondern eine kleine Serie: immer ein guter Grund für mehr Schlaf und ein guter Tipp für besseren Schlaf. Kurz und knackig. Mal sehen, ob ich Ihnen etwas aus der Schlafforschung erzählen kann, das Sie noch nicht wissen.
3| Ein guter Grund für mehr Schlaf: Ein Experiment mit unausgeschlafenen Managern zeigt, dass müde Chefs ihre persönlichen Beziehungen im Team beschädigen, ohne diese Dynamik überhaupt zu bemerken. Sie sind emotionaler, konfrontativer und ungeduldiger (Q2).
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16 Oct
Warum Frauen nicht lustig sind: Diesen Titel wagte einst Christopher Hitchens für einen Essay. Die Empörung über den Text und das alte Vorurteil dahinter wird ihn nicht überrascht haben. Allerdings: Die Daten sprechen eher für Hitchens. Empörend? Erst lesen, dann entscheiden |1
2| Die Humorforschung sieht Humor als individuelle kognitive Fähigkeit, die lose mit Intelligenz, Kreativität und Sprachkompetenz zusammenhängt. Einige Studien untersuchen, wie Männer und Frauen sich dabei unterscheiden. Eine neue Meta-Studie fasst die Ergebnisse zusammen (Q1).
3| Die Grafik zeigt die Resultate von 28 Studien (N=5.057), die alle messen, ob Männer oder Frauen humorvoller sind. Ermittelt wird das, indem unabhängige Dritte blind bewerten, was Männer und Frauen an Humor produzieren. Bei Werten größer 0 haben Männer im Schnitt die Nase vorn.
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14 Oct
Dass die Leute unterschiedlich intelligent sind, ist eine triviale Beobachtung. Deutlich interessanter wird es, wenn man stattdessen sagt: Die Leute sind unterschiedlich rational. Was das bedeutet und wo Sie da möglicherweise stehen, das können Sie in diesem Thread erfahren. |1
2| Wenn Sie mögen, lesen Sie sich zum Einstieg diese 3 simplen Aufgaben durch. Lösen Sie sie so schnell, wie Sie können. Ich habe die Aufgaben aus Q1 entnommen und für unsere Zwecke hier übersetzt. Wenn Sie fertig sind (oder keine Lust zu rechnen haben), lesen Sie einfach weiter.
3| Das Fiese an den drei Aufgaben ist nicht, dass sie schwierig sind, sondern dass unsere Intuition eine Lösung präsentiert, bevor wir überhaupt mit Rechnen beginnen: 10 Cent, 100 Minuten, 24 Tage. Unsere Intuition liegt aber eben falsch. Richtig wäre: 5 Cent, 5 Minuten, 47 Tage.
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