Okay, Zeit für einen kleinen Thread zum Thema #Wissenschaft, spezifisch im Sinne von #Naturwissenschaft.

In letzter Zeit entsteht vermehrt der Eindruck, "Wissenschaft" sei etwas, das von mehr oder minder klug aussehenden Menschen getan wird, die im TV erscheinen und Recht haben.
Das ist natürlich eine grob verzerrte Wahrnehmung. Überlegen wir uns deshalb von Grund auf, was Wissenschaft ist bzw. ausmacht.
Die Startfrage lautet: Wie nimmt ein Mensch die Welt wahr? Er empfindet ein "Ich": Das ist die Gesamtheit aller geistigen und emotionalen Prozesse, überhaupt alles, was wir denken, bemerken, empfinden.
Eine gewisse Teilmenge der Prozesse des Ichs scheint dabei nicht von ihm selbst auszugehen, sondern aus einem Kontinuum zu stammen, das unabhängig von ihm existiert -- dieses nennen wir "Umgebung", "Außenwelt", und die von ihm bewirkten Prozesse "Sinneswahrnehmungen".
Als Gegenstück zu den Sinneswahrnehmungen verfügen wir über die Möglichkeit der "Aktion" oder "Handlung", die in umgekehrter Richtung geistige Prozesse in Veränderungen in der Außenwelt umsetzt. Sowohl die Sinneswahrnehmungen wie auch die Aktionen scheinen dabei...
...mittels einer Struktur zu erfolgen, die wir "Körper" nennen. Der Körper sieht, hört, tastet, schmeckt, riecht; und kann im Gegenzug Veränderungen in der Umgebung erzeugen (meist mithilfe der Hände).
Ferner verfügt das Ich über eine Zeitwahrnehmung: Es trennt "vorher", "jetzt", "nachher" und erinnert sich an eine geordnete Folge innerer Zustände, die sich vereinfacht als Funktion P(t) schreiben ließe. P(t) ist die Gesamtheit aller Gedanken, Gefühle & Wahrnehmungen zur Zeit t.
Zu einem Zeitpunkt T, den wir als "jetzt" bezeichnen, erinnert sich das Ich an P(0), P(1), P(2), ..., P(T-1). P(t > T) ist unbekannt und wird als "Zukunft" bezeichnet.
Natürlich ist bei kaum einem Menschen die Kette P(t) lückenlos, auch bezüglich der Reihenfolge der Zustände kann, vor allem, wenn diese viele Jahre zurückliegen, Unklarheit bestehen.
Ebenso ist nicht in allen Fällen zwangsläufig klar, welche geistigen Prozesse von "außen", welche von "innen" kommen: Als Wahrnehmungen empfundene Prozesse, die jedoch aus Erfahrung oder nach Einschätzung anderer Menschen keine äußere Ursache haben, nennt man Halluzinationen.
Halluzinationen sind bei bestimmten Nervenkrankheiten häufig -- insbesondere Klänge, vor allem Stimmen, werden von Schizophreniepatienten gehört, ohne das für andere Personen äußere Quellen dieser Wahrnehmungen identifizierbar sind.
Man sieht, dass häufig Abgleichung zwischen mehreren Personen erforderlich ist, um Klarheit über die Natur bestimmter Wahrnehmungen zu erlangen. Auch hier gibt es Fehleinschätzungen: Kugelblitze wurden sehr lange als Halluzinationen abgetan -- zu Unrecht.
Man mache sich ferner klar, dass "außen" und "innen" sich hier keinesfalls auf "außerhalb oder innerhalb des Körpers" bezieht -- vielmehr bedeutet "innen": "Teil des Ich" und "außen" "kein Teil des Ich".
Das Ich ist nicht Nervengewebe, sondern die Menge der Gedanken und Gefühle.
In der westlichen Welt ist es verbreitet, jene Ich-Prozesse, die man unter "Denken" zusammenfasst, im Kopf, jene, die man "Gefühle" nennt, im Herzen, und wieder andere, die "Intuition" genannt werden, im Bauchbereich zu verorten. Dies ist jedoch eine Fiktion.
Das Ich ist kein Teil der Außenwelt, zu der auch der Körper zählt, da man seinen Zustand mit den Sinneswahrnehmungen feststellt. Es wäre möglich, das Denken in den Füßen, das Fühlen in den Haaren und die Intuition in einem Blumentopf zu lokalisieren.
Was bedeutet dies alles nun für den Begriff "Wissenschaft"?
Wissenschaft ist im einfachsten Falle das Erkennen von Zeitmustern in der Außenwelt: Anhand von Wahrnehmungen, die aufeinander folgen, wobei alleine das persönliche Zeitempfinden des Ich darüber entscheidet, welche vorher, welche nachher erfolgen und wie groß der Abstand ist.
Die ersten wissenschaftlichen Erkenntnisse der Menschheit waren meteorologischer, biologischer und astronomischer Art: Wenn das grelle Himmelslicht am Westhorizont verschwindet, erscheint es eine gewisse Zeit später am Osthorizont erneut und überquert den Himmel.
Sonnen-, Mond-, Fixstern- und Planetenlauf; Wolken, Wind und Wetter; Aufkeimen und Absterben von Pflanzen und das Kommen und Gehen von Tierherden: all diese Wahrnehmungen unterliegen, wie die Urmenschen feststellten, einem Zeittakt.
Dieser Zeittakt wurde von allen Menschen weit und breit zur Kenntnis genommen und veränderte sich nicht in wahrnehmbarer Weise. Daher sah man ihn -- vor allem die astronomischen Phänomene -- bald als zuverlässigeren Zeitgeber an als das individuelle Zeitgefühl.
Man erstellte Regeln der Art:
***Wenn ich zum Zeitpunkt t dieses und jenes wahrnehme, werde ich zum Zeitpunkt t+1 das und das wahrnehmen.***

Dies ist die einfachste Form von #Naturgesetz.
Erweitert man die Möglichkeiten der Wechselwirkung des Ichs mit der Außenwelt um die Gegenrichtung zu den Wahrnehmungen, d.h. die Handlung bzw. Aktion, dann kommt die Möglichkeit des Experiments ins Spiel.
"Experiment" bedeutet: Ich führe Aktionen aus und nehme zur Kenntnis, wie die zeitliche Abfolge der Sinneswahrnehmungen dadurch beeinflusst wird.
Damit ergibt sich die allgemeinste Grundform des Naturgesetzes:
***Wenn ich zum Zeitpunkt t die Wahrnehmung X empfinde und die Handlung Y ausführe, werde ich zum Zeitpunkt t+1 die Wahrnehmung Z empfinden.***
Y kann dabei natürlich sehr komplex sein: Ein Teleskop herstellen, es in eine bestimmte Richtung schwenken und durchsehen; oder ein Zyklotron konstruieren und bestimmte Arbeitsschritte damit vornehmen; oder bestimmte Stoffe vermischen und erhitzen; etc.
Zwischen t und t+1 können mithin Jahrzehnte liegen: z. B. bei Raumsonden.
Um die Wahrnehmung Z aus der Wahrnehmung X und der Handlung Y zu ermitteln, kommen Regelwerke und Schemata zum Einsatz -- dies ist die #Mathematik.

Im allgemeinsten Sinne ist dies eine formale Sprache, die auf beliebig lange Sätze aus endlich vielen Symbolen angewendet wird.
Die Sprache besteht aus Regeln, nach denen man die Sätze verändern darf.
Z. B.:
Der Satz "|+||" darf ersetzt werden durch den Satz "|||".

Hieraus lässt sich die gesamte Algebra und Geometrie aufbauen.
#Wissenschaft ist also Folgendes:

***Ein in einer formalen Sprache beschreibbares Regelwerk, welches es erlaubt, aus Sinneswahrnehmungen und Handlungen zu einem bestimmten Zeitpunkt zukünftige Sinneswahrnehmungen vorherzusagen.***
(Und nicht etwa eine Sammlung von Kalendersprüchen, die oben bei Harald Lasch rauskommt.)

Hierbei gilt:

Beruht ein Naturgesetz (also eine solche Vorhersageregel) auf Vermutungen und sporadischen Beobachtungen, ist es eine #Hypothese.
Wurde es von vielen Personen immer wieder bestätigt oder kann mindestens auf andere Regeln, die bereits vielfach bestätigt wurden, in klarer logischer Linie zurückgeführt werden, ist es ein #Modell.
Die Annahme, dass das Modell auch zukünftig tauglich sein und seine Vorhersagen unverändert eintreten werden, nennt man #Theorie.
Allerdings gibt es Naturgesetze, die eher die Natur mathematischer Theoreme haben: Theoreme sind Sätze der formalen Sprache, die sich aus Ausgangssätzen, welche man als plausibel annimmt (Axiome) anhand der Umwandlungsregeln ergeben.
Axiome und Umwandlungsregeln beruhen auf einer logischen Grundstruktur, die notwendigerweise **sowohl der Außenwelt wie dem Ich zugrundeliegt** -- notwendigerweise, weil sonst kein Informationsaustausch zwischen beiden möglich wäre.
Diese Grundstruktur umfasst Regeln wie "wahr ODER falsch = wahr" oder "Alle Twitterer sind Dackel, Curiepolis ist ein Twitterer --> also ist Curiepolis ein Dackel" etc.
Naturgesetze, die mehr Ähnlichkeit mit Theoremen als mit Beobachtungs-Vorhersageregeln haben (obwohl sich stets auch Letztere aus ihnen ableiten lassen), sind beispielsweise der 2. Thermodynamische Hauptsatz, das Noether-Theorem (jeder Symmetrie entspricht ein Erhaltungssatz)...
...oder mglw. auch der Trägheitssatz und die Relativitätstheorie.

Diese Gesetze werden im Wesentlichen durch Denken erschlossen und nicht durch das Experiment. Aus ihnen folgen jedoch Regeln, die experimentelle Voraussagen machen ("Der Stiel des Kaffeelöffels wird heiß", etc.).
Da mathematische Theoreme und ihnen ähnelnde Naturgesetze (die Trennung ist nicht scharf) auf der logischen Grundstruktur beruhen, die das Ich und die Außenwelt gemeinsam haben, machen sie ontologische Aussagen (fundamentale Grundaussagen über die Natur der Realität).
Die #Naturwissenschaft hat 2 Aspekte:
*** Sie erlaubt Vorhersage zukünftiger Sinneswahrnehmungen aus Wahrnehmungen und Handlungen zu einem gewissen Zeitpunkt;
*** Sie enthüllt Wahrheiten über die Grundstruktur der Welt (und grenzt sich hier nicht scharf ab von Mathematik+Logik).
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27 Nov
Es ist interessant, dass die Frage der Endlagerung radioaktiver Stoffe als Thema und Motiv in literarischem Zusammenhang aufgegriffen wird.
Die Notwendigkeit, menschliches Wirken über mehrere Generationen (also über den Horizont des Individuums hinaus)...
...oder sogar über geologische Zeitdauern (d.h. über den Zeithorizont der gesamten menschlichen Kultur hinaus) zu betrachten, erzeugt ein philosophisches Spannungsfeld, da dadurch eben das "Menschliche" mit dem "Nichtmenschlichen" (Kosmos, Erdgeschichte) verknüpft wird.
Dies hat die Definition des "Anthropozäns" motiviert. Nicht nur künstliche Radionuklide -- vieles, was die Menschheit seit der Sesshaftwerdung im Neolithikum hergestellt hat, wird über Zeitspannen existieren und sich auswirken, die den historischen Zeithorizont übertreffen.
Read 12 tweets
8 Nov
"Deutschland soll bis 2045 klimaneutral werden"
bundesregierung.de/breg-de/themen…

--> und zwar ausschließlich mithilfe Erneuerbarer minus Kernenergie.

Ist das überhaupt plausibel? Lasst uns rechnen.
Deutschland verbraucht jährlich Strom entsprechend einer Durchschnittleistung von ca. 60 GW.
(Ich rechne hier alles als Jahresdurchschnittsleistung, also "Gesamtmenge Energie / 31.5 Mio S".)

Ferner verbraucht es Erdöl mit einer Rate von ca. 100 Mio t/Jahr
de.statista.com/statistik/date…
...was, bei einem Heizwert von 10 kWh pro Liter und einer Dichte von 0.8 kg/l, einem auf die Masse bezogenen Heizwert von 45 MJ/kg und somit einer "Ölbrennleistung" Deutschlands von ca. 140 GW entspricht.
Read 24 tweets
6 Nov
Idee:
Die wesentlichste Eigenschaft und Stärke der Affenart Mensch ist die Fähigkeit zum Verständnis des Konzepts "Zukunft". Dies ist der kognitive Faktor, der dazu führt, dass die eine Art im Urwald Termiten angelt, die andere, nahverwandte, ins All fliegt.
Dadurch, dass Homo Sapiens sich eine abstrakte, hypothetische Zukunft vorstellen kann, vermag er, Pläne für diese zu machen und zum Erreichen dieser Pläne kurzfristig Erregung des Schmerzzentrums in Kauf nehmen.
Wenn ein Tier einer anderen Art die Möglichkeit zur Wahl verschiedener Handlungsweisen hat, wird es diejenige wählen, die das Belohnungszentrum am stärksten, das Schmerzzentrum am schwächsten erregt.
Read 6 tweets
5 Nov
Interessant ist BTW: Den KP erkennt jeder Leser sofort als Märchen (oder vielleicht eher als Folge von Bildern und Visionen) -- Star Wars oder (in noch etwas höherem Maße) Star Trek dagegen werden als "irgendwie realitätsnäher" empfunden...
...obwohl sie das keinesfalls sind. (E.g. scheint es in diesen Universen auch eine Atmosphäre zwischen den Himmelskörpern zu geben, die Schall leitet, Raumschiffe bewegen sich wie Ozeanschiffe oder Flugzeuge, in SW existiert eine Art Magie u.v.m.)
Dennoch werden sie als "Science Fiction" (d.h. "irgendwie theoretisch möglich") und nicht als Märchen wahrgenommen: weil die Geschichten sich Bildern, Begriffen und Erklärungen bedienen, die ein wissenschaftliches Flair haben.
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5 Nov
Das ist ein interessanter Punkt.
Betrachtet man Raumschiffe realistisch, dann gilt es, jedes überflüssige Gramm an Bord zu vermeiden. Die maximale Geschwindigkeitsänderung (das entscheidende Maß ihrer Leistungsstärke) einer Rakete beträgt:
Δ v = v0 * ln(Masse betankt / Leermasse)
wobei v0 die Triebwerksstrahlgeschwindigkeit und "ln" der natürliche Logarithmus ist -- die am langsamsten wachsende mathematische Funktion.
Um Δv möglichst groß zu machen, muss daher das Verhältnis von betankter zu leerer Masse geradezu krampfhaft erhöht werden...
...was man in der Praxis mit Stufenbauweise schafft.

Kissen, Bilder, nichtdigitale Bücher, Topfpflanzen u.ä. verringern dieses Verhältnis und sind deshalb nicht an Bord mitzubringen.
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19 Sep
Eine kleine Beobachtung.

Im späten 20. Jahrhundert (und bis in die frühen 2000er) war die postmoderne Auffassung häufig, dass die Naturwissenschaften gar keine sinnvolle Beschreibung der Welt seien, entweder, weil ihnen die wahren Zusammenhänge nicht zugänglich seien...
...oder aber, weil es sich überhaupt nur um sozial ausgehandelte Konstruktionen handle. Stattdessen sprachen sich allerlei Menschen mittlerer Intelligenz für "mystisches" oder "intuitives" Erfassen der Natur aus.

Heutzutage ist diese Auffassung selten geworden.
Man hört nicht mehr viel davon. Was allerdings der Fall ist: Aussagen, die naturwissenschaftlichen Modellen von Grund auf widersprechen, werden als diskussionswürdig oder sogar axiomatisch wahr angesehen, besonders bekannt sind hier die Ideen der "Genderforschung"...
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