Mir ging dieser Tage die Frage durch den Kopf, weshalb mich dieses reflexartige "Kommunismus/DDR"-Gebrülle vieler westdeutscher Konservativer in Debatten um linke Themen so nervt und warum ich mich in so vielen Debatten beinahe schon genötigt fühle, Lanzen "für den Osten" zu
brechen. Ich bin Jahrgang '84 und hab nur die ersten 6 Jahre in dem Land verbracht, mir könnte mir das Urteil anderer über diesen Staat beinahe egal sein, ist es aber nicht.

Ich hab mich in den zurückliegenden Jahr(zehnten) sehr intensiv mit der Frage beschäftigt, wie es
"damals" so war und die beste Methode dafür war, mich mit Menschen in meinem Umfeld zu unterhalten und sie zu fragen, wie sie die Zeit erlebt haben. In den Schilderungen war sehr vieles dabei: persönliches, berufliches und politisches.
Es gibt Leute in meinem Umfeld, die
"nah dran" waren am System und teilweise auch anderen bewusst geschadet haben, es gibt Menschen, die Opfer des Systems waren (Jugendwerkhöfe waren kein Spaß, Leute, und viele tragen an diesem Schicksal bis heute...) und dazwischen gibt es allerlei Schattierungen, Entscheidungen
und Lebensentwürfe. Und keiner von ihnen ist schwarz oder weiss, nur gut oder nur schlecht. Das könnte man aber auch über Westbiografien schreiben.
Ich habe keinen Grund, diesem Staat nachzutrauern, oder ihn zu relativieren. Ich bin froh, dass er mit seiner Übergriffigkeit und
Willkür Geschichte ist. Er hat seine Bürger*innen be- und ausgenutzt. Meine eigene Familie wurde u.A. durch die Mauer getrennt.
Aber:
Ich verstehe und nehme wahr, dass viele Ostdeutsche sich (verständlicherweise) nicht über das politische System definieren lassen wollen, in
welches sie hineingeboren wurden.

"Leben" ist mehr, als das politische Gebilde, für das man sich nicht entscheiden konnte. Man hat auch keine Lust, nach 32 Jahren noch zu erklären, dass man nicht Tag und Nacht gelitten hat, weil die Orangen in der Mangelwirtschaft rationiert
waren und dass das eigene Leben nicht minderwertig war, weil es keine Bananen gab. Es gab Probleme, aber diese betrafen selten Orangen und Bananen. Und ich hab auch noch niemanden gesprochen, der mir sagte "also ohne den Hinweis vom Kohl wär mir nie aufgefallen, dass unsere
Infrastruktur in weiten Teilen marode war."
Die Menschen waren nicht "der Staat und seine Wirtschaft", sondern Petra, Karsten, Heinz, Sabine, Peter und und und. Und diese hatten auch nach '89 kein Interesse, Synonym für Staat und Wirtschaft genannt zu werden.

Die allermeisten
der Menschen, mit denen ich gesprochen habe, haben ihre eigene Zeit und Rolle in der DDR in den letzten 32 Jahren reflektiert und was mit diesem Ergebnis angestellt. Viele sind "rübergefahren". In den Urlaub, zu Verwandten, oder gleich gänzlich umgezogen.

Wenn ich mir manche
westdeutsche Protagonisten und ihre Floskeln anschaue, habe ich hingegen das Gefühl, dass es in den zurückliegenden 32 Jahren keine Reflexion der eigenen Sicht und einen wirklichen Austausch mit der "anderen Seite" gab.

Wenn Menschen erleben, dass privatisierter
Wohnungsbestand dazu genutzt wird, Preiswucher zu betreiben, dann kommt die Forderung nach Vergesellschaftung nicht daher, dass Menschen Mielke, Mauer und Mangelwirtschaft wiederhaben wollen, sondern bezahlbare Lösungen brauchen, um in ihrem sozialen Umfeld bleiben zu
können. Man kann und muss immer darüber debattieren, welche Instrumente geeignet sind, um dort hinzukommen, aber Unterstellungen, DDR-Zuschreibungen und Paternalismus helfen dabei garantiert nicht (jenseits des Umstands, dass eine solche Argumentation auch in der Sache völlig
unterkomplex ist). Ich erlebe in dieser und anderen Debatten einfach die selben Floskeln, wie Anfang der 90er und da muss ich "uns" dann einfach verteidigen.

Da ist zumindest ein sehr großer Teil von uns Ostdeutschen im eigenen Reflektieren deutlich weiter und hat solche
Zuschreibungen nicht verdient. Redet mit uns und nicht über uns. Danke.

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24 Oct
Ein Text von Hannah Arendt aus dem Jahr 1950 aus dem Buch "Besuch in Deutschland":

„Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt jedoch in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen.[…] Auf „Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspek
allen Gebieten gibt es unter dem Vorwand, daß jeder das Recht auf eine eigene Meinung habe, eine Art Gentleman’s Agreement, dem zufolge jeder das Recht auf Unwissenheit besitzt – und dahinter verbirgt sich die stillschweigende Annahme, daß es auf Meinungen nun wirklich nicht
ankommt. Dies ist in der Tat ein ernstes Problem, nicht allein, weil Auseinandersetzungen dadurch oftmals so hoffnungslos werden […], sondern vor allem, weil der Durchschnittsdeutsche ganz ernsthaft glaubt, […] dieser nihilistische Relativismus gegenüber Tatsachen sei das
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21 Sep
Ich stecke gerade in einer wirklichen Sinnkrise mit diesem Bildungswesen. Die Behauptung, es ginge um Kinder und ihre Entwicklung ist an vielen Stellen falsch, oft geheuchelt und an nicht wenigen Stellen ist man mittlerweile wenigstens so ehrlich, dies einzuräumen. Man merkt
es insbesondere auch an der Sprache:

Kindern wird Wissen "vermittelt" statt ihnen die Möglichkeit zu geben, es sich zu erschließen. Kinder werden vorausgreifend "belehrt" (voll geil, wenn das erste, was man als Sechsjähriger, der frisch eingeschult Lust darauf hat, sich
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Kinder werden "geprüft", ob sie zu einem Zeitpunkt X
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19 Sep
Liebe @SenBJF, ich hab da mal ein paar Gedanken zum Thema "Rechtstreue":

Ich habe im Umgang mit öffentlicher Verwaltung einiges erlebt und arbeite auch selbst in einer.

Verwaltung kann eigensinnig sein, aber es gibt einen Punkt auf den sie letztlich immer verpflichtet ist:
Gesetze und Verwaltungsvorschriften sind einzuhalten. Die Eine oder Andere mag kryptisch erscheinen, aber sie sind die Basis dafür, dass Verwaltung nachvollziehbar und frei von Willkür handelt. Das Problem (und das hat mich wirklich nachhaltig erschüttert):

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17 Sep
Freud und Leid der schulischen Zusammenarbeit und ein paar Lücken im Schulgesetz, die allen schaden.
Ein Thread //

Ich bin ein großer Fan der Idee von schulischer Eigenverantwortlichkeit, da ich glaube, dass dies in einer diversen Stadt wie Berlin nur so fuktionieren kann. 1/x
Die weitere Idee der"demokratische Schule" ist Voraussetzung für eine gelingende Schulentwicklung, da diese nur dann funktioniert, wenn alle Pädagog*innen, Sch+ler*innen und Eltern gleichermaßen mit ihren Perspektiven und Lebenswirklichkeiten ergebnisoffen einbezogen werden. 2/x
Das aktuelle Schulgesetz ist dafür eine gute Basis, aber es ist hin zu Ende gedacht. Ein paar Punkte:

1.) Die schulische Selbstverwaltung, die operative Ebene und die Fachaufsicht müssen stärker voneinander getrennt werden. Es ist ein Rollenkonflikt, wenn Schulleitungen das 3/x
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Armin Laschet, der mit Händen in der Manteltasche den Bürger in Not sprichwörtlich im Regen stehen lässt.
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Nun ja...
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2 Aug
Die Regelung zum "Schulisch angeleiteten Lernen" für Kinder aus Risikogruppen der @SenBJF zeigt mal wieder, dass das Konzept von "Schulleitung" neu gedacht werden muss. Grundproblem:

Schulleitungen sind sowohl fachliche Letztentscheider in den Schulen, als auch Dienstherr, als
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berlin.de/sen/bjf/corona…
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