Ich möchte darauf hinweisen, dass die gestrige Entscheidung des #EuGH in Sachen gleichgeschlechtlicher Elternpaare nicht so aufsehenerregend ist, wie es auf den Blick scheinen mag. 🧵/1 curia.europa.eu/juris/document…
Das mit seinen Eltern in Spanien lebende Kind hatte de lege lata durch sein bulgarisches Elternteil bereits die bulg Staatsangehörigkeit.
Die bulgarischen Behörden weigerten sich, dem Kind einen bulg Reisepass auszustellen, weil nicht zwei Mütter eingetragen werden könnten. /2
Aus Sicht der bulgarischen Behörden hatte das Kind also eine Mutter "zuviel". /3
Der EuGH stützte sich nun in seiner Bewertung zentral auf die Unionsbürgerschaft des Kindes, die akzessorisch zur mitgliedstaatlichen entsteht.
Art. 4 Abs. 3 RL 2004/38 verpflichtet MS, ihren Staatsangehörigen einen Reisepass auszustellen, der ihre Staatsangehörigkeit angibt. /4
Bulgarien darf nicht auf eine "richtige" Geburtsurkunde mit Mama und Papa bestehen (Rn. 45), sondern muss einfach einen Reisepass herausrücken, weil sonst das Kind nicht von seiner Freizügigkeit als Unionsbürger*in Gebrauch machen kann. /5
Die Unionsbürgerschaft schützt auch das Recht, sich mit der eigenen Familie gemeinsam in einem Land aufzuhalten. Da Spanien die beiden Mütter und das Kind als Familie anerkannt hat, müssen auch alle anderen MS diese Familie anerkennen (Rn. 47-49). /6
Um dieses Recht ausüben zu können, bedürfen Eltern wie Kind der relevanten Dokumente. Insbesondere müssen die Eltern mit dem Kind reisen können. Wenn Spanien als Legitimation eine Geburtsurkunde ausstellt, müssen alle anderen MS diese anerkennen (Rn. 50). /7
Jetzt kommt die Crux der Entscheidung:
Das Personenstands- und Abstammungsrecht liegt in der Kompetenz der MS. Infolgedessen ist es KEINE unionsrechtliche Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung, wenn nur manche MS gleichgeschlechtliche Paare als Eltern anerkennen. /8
Trotzdem müssen ALLE Mitgliedstaaten die gleichen Rechte von Unionsbürger*innen auf Freizügigkeit achten und deswegen die personenstandsrechtlichen Regelungen in anderen MS anerkennen (Rn. 52)! /9
Bulgarien argumentierte, seine "öffentliche Ordnung u nationale Identität" werde beeinträchtigt, "da die bulg Verfassung und das bulg Familienrecht die Elternschaft zweier Personen gleichen Geschlechts nicht vorsähen" (Rn. 53).
Dem tritt der EuGH entschieden entgegen (Rn.55)! /10
Nicht jeder MS darf selbst bestimmen, was seine "öff Ordnung" beeinträchtige, weil sonst das Unionsrecht ausgehebelt werden könne (Rn. 55). /11
Eine Berufung auf die öff Ordnung sei "nur möglich, wenn eine tatsächliche u hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt" (Rn. 55).
Keep it real, Bulgarien: Hier gibt es keine solch schwerwiegende Gefährdung! (Rn. 56 f.) /12
Die Pflicht, eine Reisedokument für ein Unionsbürgerkind auszustellen, impliziere nämlich nicht die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Elternpaare, sondern eben nur die Ausstellung eines Reisedokuments. (Rn. 57) /13
Sehr schöne Wendung am Schluss:
Die Beschränkung der Freizügigkeit durch Verweigerung des Reisepasses kann gar nicht gerechtfertigt werden, wenn die angeführten Gründe gegen Grundrechte verstoßen.
Hier verhindere Bulgarien das Familienleben des Kindes mit Eltern (Rn. 58 ff.) /14
In Rn. 64 kommt dann aber doch noch die mesnchenrechtliche Pflicht, das Kind nicht wegen der sexuellen Orientierung seiner Eltern zu diskriminieren. Das ist aber obiter dictum. /15
Vorsorglich für den Fall, dass Bulgarien jetzt doch nicht die bulg Staatsbürgerschaft des Kindes anerkennen möchte, hält der EuGH fest, dass das ganz egal wäre, weil Bulgarien Spaniens Entscheidung anerkennen muss, no matter what (Rn. 67). /16 end
PS: Dank an @mgruenberger! Dein Kommentar hat diesen ausführlicheren 🧵 angestoßen.
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#Mietpreisbremse, das Urteil.
Ein kurzer Thread mit ein paar Beobachtungen. /1
Rn. 82: Das BVerfG räumt mal kurz mit der Vorstellung auf, wenn der Bund keine Kompetenz habe, spreche eine Vermutung für die Kompetenz der Länder. Hui!
[Protipp: Der Verweis auf Literatur zeigt, dass das Gericht hier eine Änderung der Rspr. vornimmt.]
Das Dilemma aktueller verfassungsrechtlicher Kritik ist nicht so sehr der bereits eingetretene #Ausnahmezustand, sondern der Satz: "Not kennt kein Gebot.", der zu schleichender Erosion von (verfassungs)rechtlichen Bindungen führt. 1/n
Ist es zulässig oder gar schädlich, an den gegenwärtigen Exekutivmaßnahmen grundsätzliche Kritik zu üben, wie @m_kubiciel moniert hat?