Bin auch super überrascht, dass man als Bildungsministerin die blinde Wut auf sich zieht, wenn man erst die ungebremste Durchseuchung in Schulen verantwortet und anschließend Power Tweets über tote Kinder veröffentlicht.

Ein Fall für Galileo Mystery!
Dafür wissen wir jetzt wenigstens, wer an allem Schuld ist: Twitter. Schreibt der Pressesprecher der Bildungsministerin. Auf Twitter. Weil die Bildungsministerin nicht mehr auf Twitter ist. Große Zustimmung bei den üblichen Oberschlaubergern. Ebenfalls auf Twitter.
Nun kommen die vielen Appelle der Mäßigung. An alle Seiten. Das hat den Vorteil, dass man sich selbst, ohne es offen auszusprechen, als gemäßigte, kluge, salomonische, Spaltung-der-Gesellschaft-überwindende Mitte positionieren kann. Ebenfalls auf Twitter.
Querdenker auf der Straße, Aufmärsche vor Privathäusern von Politikern, Morddrohungen gegen Wissenschaftlerinnen, Terrorakte gegen Tankstellenmitarbeiter.

Und anstatt eine einzige fucking Sekunde darüber nachzudenken, ...
... ob vielleicht auch etablierte Medien, die halboffen das Gewese über die "Corona-Diktatur" befeuern und nonchalant darüber philosophieren, ob Hitler vielleicht links, der Judenstern unantisemitisch und Holocaust-Überlebende linksextrem sind, Verantwortung tragen, ...
... gibt es den sekundenschnellen Fingerzeig auf Neuland-Geburtsfehler-des-Internet-Kostenloskultur-Social-Media-Twitter.

Diese ganze Nummer ist so ein verlogener Dreck, dass man nicht einmal weiß, wo man anfangen soll.
Jedes Medienhaus ist auf Twitter vertreten. Jedes. Auf diesem Twitter hier. Jeden Tag werden Daten und Statistiken über Klicks, Likes, Shares und Impressions ausgewertet. Das macht jede Zeitung und jeder Sender. Und ebenfalls weiß jedes Medium, dass ein Hot Take über ...
... "Rassismus als Geschäftsmodell", "Binnen-I als orthographischer Umschnalldildo" und "Darf man noch N*** sagen" auf Twitter und Webseite mächtig Reichweite gibt.

Beispiel 1 ist @Tagesspiegel, Beispiel 2 ist @tazgezwitscher, Beispiel 3 ist @mdrde. Von wegen "Springermedien".
Jedes Medienhaus, jede Journalistin, jeder Autor profitieren von Aufregung und Wut, die sich in "User Engagement" verwandeln lassen. Sich nun hinzustellen und diese Wut-Aufregung auf Twitter zu verurteilen, während man auf Twitter Texte darüber bewirbt wie schlimm Twitter ist ...
... oszilliert irgendwo zwischen himmelschreiender Doppelmoral & nobelpreisträchtigem Geschäftsmodell.

Medien, deren Kommentarspalten ungefähr so appetitlich sind wie der Bodensatz der örtlichen Kläranlage, veröffentlichen ernsthaft Kolumnen über die verrohte Kultur auf Twitter.
Währenddessen berichten Chefredakteure voller Stolz, wie sie "Buzz" auf Twitter erzeugen, indem sie hirnverbrannte und zuweilen menschenverachtende Unsinnsthesen in die Welt setzen und sich im Kellerloch über die Aufregung darüber amüsieren.
"Hahaha. Solche Trottel. Was müssen das nur für Idioten sein, die mal mehr mal weniger unbeholfen, aber immer erfolglos versuchen, meinen Quatsch geradezurichten." - "Reichweite. LOL." - "Chef, der "Impfausweis ist der neue Ariernachweis"-Text ist auf Platz 1! ROFL".
So. Keine Zeit. Schnell noch ein paar ungelesene Schopenhauer-Sammelbände auf dem Fußboden abphotographieren und auf Twitter veröffentlichen, damit man als Chefredakteur einer hochseriösen Qualitätszeitung nicht vollends rüberkommt wie der Typ von "Wayne’s World".
Twitter ist tatsächlich schlimm. Hass und Hetze gedeihen hier ohne größere Strafmaßnahmen.

Aber einmal dazwischengefragt: Wo denn bitte nicht? Ich bekomme E-Mails an meine Geschäftsadresse, wo mir Leute mit Klarnamen und vollständigen Kontaktdaten den Tod wünschen. Per E-Mail!!
Ich habe Familien-WhatsApp-Gruppen gesehen, die man nur noch als toxisch bezeichnen kann. Den Scheiß auf Telegram, VT und geschlossenen Facebook-Gruppen, wo Sandra aus Recklinghausen zwischen Schmink-Tipps und Tinder-Dates den Holocaust leugnet, erwähnen wir gar nicht erst.
Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sich erwachsene Menschen im Edeka um die letzte Klopapierpackung (!) geprügelt haben.

Ja, Twitter ist schlimm. Aber Twitter ist nicht an allem Schuld. Dass ich diesen Thread überhaupt schreiben muss, regt mich auf.
Zu "Der Diskurs ist kaputt" und "Früher war alles besser" habe ich übrigens folgendes geschrieben. Lesen!

Noch einmal: Twitter ist schlimm. Und manchen verleitet die Unmittelbarkeit und die Jagd nach Likes und Shares zu Grenzüberschreitungen.

Ich nehme mich gar nicht davon aus.

Aber Twitter ist keine von Maschinen kontrollierte Matrix, die sich von der Energie ihrer angestöpselten Menschen ernährt. Was soll das überhaupt sein, dieses Twitter? Die Nutzer:innen? Alle Nutzer:innen?
Also auch die Medien? Die Ministerien? Der Bundeskanzler? Der Papst? Allesamt haben Twitter-Accounts. Oder nur diejenigen, die sich an den Twitter-Diskussionen beteiligen? Also diejenigen, die, um mal zum Ende zu kommen, sich darüber aufregen, wenn eine Bildungsministerin ...
... mindestens ungeschickt (ist nur ein Platzhalter, passendes Adjektiv bitte hier einsetzen) über tote Kinder twittert.

Politiker machen Fehler. Menschen machen Fehler. Jeder darf Fehler machen. Wir werden einander viel verzeihen müssen - hieß es zu Anfang der Pandemie.
Kein Fehler darf zur Folge haben, dass man eine Person als Person, als Elternteil, als Jüdin angreift. Darüber scheint es auch bei Twitter keine umfassende Einigung zu geben. Wer seine menschenverachtende Haltung in eine grenzüberschreitende Handlung übersetzt, gehört bestraft.
Darüber gibt es ja nun hoffentlich keine zwei Meinungen. Immer wieder aber lässt sich feststellen, dass legitime Kritik mit Verweis auf den dazwischen feststellbaren Hass abgewertet wird. Die Kritik der Eltern tritt in den Hintergrund, wenn ein Arschloch in den Vordergrund tritt.
Von alledem abgesehen: Im dritten Jahr der Pandemie, wo nun so viel über Digitalisierung in Klassenräumen, Luftfilter, Präsenzpflicht, alternative Klassenräume, Wechselmodelle und ähnlichem diskutiert wurde, festzustellen, dass nichts (!) von alledem umgesetzt wurde, ...
... darf sich eine Bildungsministerin mit der gebührenden Wut der Eltern und Schülerinnen anhören. Vielfach und tausendfach. Das wird ihr, ganz im Gegenteil zu dem, was sie uns hier als Abschiedsbrief hinterlassen hat, auch jenseits von Twitter in derselben Tonlage begegnen.
Und wenn eine Politikerin es nicht schafft das Leben der Menschen in diesem Land zu verbessern und ihre politischen Handlungen klug an die Betroffenen zu kommunizieren, dann sei eine ausführliche Karriereberatung empfohlen. Nach ihrem Rücktritt. Nicht nur auf Twitter.

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Feb 6
Im Anschluss an den Mord an zwei Polizisten, schreibt CDU-Innenminister Herbert Reul einen Text über die Probleme im Polizei-Alltag.

Mal sehen, ob Ihr ein Muster erkennt.

/1
Reul hätte erklären können, was es mit der Gewalt gegen Polizeibeamte auf sich hat. Oder wer diese Menschen sind, die üblicherweise Polizisten angreifen. Auch ein Lösungsvorschlag wäre keine schlechte Idee gewesen.

Aber er entschied sich anders.

/2
Die beiden Polizisten, die in Kusel ermordet wurden, wurden weder von Clan-Kriminellen, noch von Migranten, noch von Flüchtlingen, oder von „radikalen Fridays for Future Gewalttätern“ umgebracht.

Es waren mutmaßlich polizeibekannte Deutsche, die Andreas und Florian heißen.

/3
Read 5 tweets
Feb 6
Der Text von @NancyFaeser im VVN-BdA. Ungekürzt & unverändert. Ohne ärgerliche Fehler bei der Digitalisierung:

„Seit dem Spätsommer 2018 sind in ganz Deutschland weit über 100 Briefe, Faxe und E-Mails aufgetaucht, in denen Menschen von einem angeblichen »NSU 2.0« bedroht werden.
In einigen dieser Schreiben finden sich persönliche Informationen über die Empfänger:innen, die öffentlich nicht zugänglich sind. Die meisten der NSU-2.0-Briefe sind voller ekelhafter rechtsradikaler Phantasien von der Vernichtung Andersdenkender.
Und alle diese Nachrichten haben ein Ziel: Diejenigen einzuschüchtern, die in der Öffentlichkeit für Toleranz, Freiheit, Weltoffenheit und den demokratischen Rechtsstaat einstehen. Seit einigen Wochen gehöre auch ich zu jenen, die eingeschüchtert werden sollen.
Read 23 tweets
Feb 5
Eine Vereinigung von Holocaust-Überlebenden gilt in Deutschland also als verfassungsfeindlich.

#Faeser
#VVNBdA
Vielleicht wissen BILD, Junge Freiheit, CDU und AfD auch einfach besser, was es mit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes auf sich hat als der Zentralrat der Juden.

#Faeser
#VVNBdA
Dieselben, die der Meinung sind, dass die Nationalsozialisten Sozialisten waren, sind nun also der Meinung, dass eine Vereinigung der Überlebenden des Nationalsozialismus verfassungsfeindlich ist, weil sich Sozialisten unter ihnen befinden. Ein glasklarer Fall für @WitzigWeil.
Read 4 tweets
Feb 4
Der deutsche Staat (!) muss sich von Google (!) eine E-Mailadresse (!) vermitteln lassen (!), um per Videokonferenz Kontakt zu Telegram aufnehmen zu können und wertet die Benennung eines Ansprechpartners (!) bereits als riesengroßen Erfolg.

rnd.de/politik/druck-…
Nur um das klarzustellen: Es ist gut, dass die Bundesregierung und besonders @NancyFaeser alle nur erdenklichen Wege beschreitet, um das Problem mit Telegram und ähnlicher digitaler Infrastruktur zu lösen. „Das Internet ist kein rechtsfreier Raum“.
Das muss auch dann gelten, wenn es nicht um Urheberrecht, sondern um Verleumdung, Bedrohung und Mordaufrufe geht.
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Jan 21
„Oh je!“ ist die Kurzform von „Ojemine“, was sich wiederum von „Jemine“ ableitet, einer Entstellung aus dem Lateinischen „Jesu domine“.

Aber warum soll man es auch mit der Wahrheit halten, wenn man einer deutschen Frau Unkenntnis oder Ignoranz jüdischen Lebens unterstellen kann?
„Inexcusable. Especially for a German“. Soso.
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Jan 19
Die Bundesländer mit der höchsten Impfquote (Bremen, Hamburg, Schleswig-Hostein) haben die wenigsten Todesfälle je Einwohner. Die Länder mit der niedrigsten Impfquote (Sachsen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen) haben die meisten Todesfälle je Einwohner.
Ausreißer sind das Saarland (hohe Impfquote, mittlere Zahl an Todesfällen) und Mecklenburg-Vorpommern (niedrige Impfquote, niedrige Zahl an Todesfällen). In Sachen Impfquote und Todesfälle lassen sich aber, zurückhaltend formuliert, deutliche Zusammenhänge erkennen.
Der Norden kommt sehr gut weg, der Westen gut, der Süden schlecht und der Osten sehr schlecht. Ob es die Ablehnung staatlicher Institutionen, der Glaube an die Esoterik, beides oder etwas ganz anderes ist: Egal was es ist, ohne Impfung gibt es keinen Weg aus dieser Pandemie.
Read 6 tweets

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