2022: Europa sucht (leider) wieder nach einer neuen Sicherheitsordnung. Dabei stellt sich erneut die Frage, wie man mit einer "gekränkten Großmacht" umgeht. #Macron warnt vor einer Demütigung #Russland/s. Ist eine "gerechte" Ordnung überhaupt möglich? Ein historischer Blick 🧵/1
Der #WienerKongress (1815) beendete die Revolutionskriege und ordnete Europa neu. Für #Gauland ein positives Beispiel, was mehr über seine Weltanschauung als historische Kenntnisse aussagt. In Wien trafen sich die Großmächte der Restauration, der Hochadel und die Fürsten/2
Die Verhandlungen und die Grenzziehung verliefen ohne jegliche Rücksicht auf die Bürger und ihre Rechte. Liberale Bewegung sollten im Gegenteil klein gehalten werden, was die "Karlsbader Beschlüsse" (1819) noch einmal bekräftigen. Nachhaltig war diese Ordung aber nicht/3
Die "Heilige Allianz" zerbrach an seiner gegensätzlichen politischen Entwicklung: Frankreich und GB erweiterten Mitbestimmungsrechte des Bürgertums und durch die freie Presse entstand eine politische "Öffentlichkeit" - das Zarenreich erstarrte hingegen in der Autokratie/4
Die Konflikte um Revolution und Restauration kumulierten schließlich im Krimkrieg (1853-1856). Russland erlebte eine demütigende Niederlage, da seine Armee den aufstrebenden Industriemächten nicht mehr gewachsen war. Das Wiener System war am Ende /5
Die Pariser Vorortverträge, am bekanntesten #Versailles (1919), beendeten den Ersten Weltkrieg. Sie gelten bis heute als Negativbeispiel des ungerechten Friedens (sogar durch #Macron). Dabei ist die Bilanz der Verträge komplex, die Deutschen keineswegs Opfer von #Erniedrigung /6
In Paris waren die Ansprüche hoch: Erstmals sollte eine Friedensordnung Demokratie und Selbstbestimmung berücksichtigen - paradoxerweise stellte sie gerade deswegen niemanden zufrieden. Nationale und "historische" Ansprüche der alten und neuen Staaten überlappeten sich/7
Niemand konnte Maximalansprüche durchsetzen und sich als "Sieger" betrachten. Zu Beginn reagierten fast alle deutschen Parteien entsetzt, dabei war die "Kriegschuld" (die nicht nur Dtl. betraf!) eine juristische, keine moralische Kategorie. Langfristig war das System flexibel/8
Deutschland konnte wieder zur industriellen Großmacht aufsteigen. Inflation (v.a. in Folge der ungedeckten Kriegsanleihen), Überschuldung u. der Bankencrash 1929 führten zur Weltwirtschaftskrise. Hitler und seine Bewegung machten d. "ungerechte" Nachkriegsordnung verantwortlich/9
Deutschland als "gekränkte" Weltmacht: "Dolchstoß" durch die demokratischen Parteien, #Versailles und natürlich die "jüdische Weltverschwörung". Juden waren laut der NS Propaganda gleichermaßen für Kommunismus/Sozialismus sowie das amerikanische Finanzkapital verantwortlich/10
Derart abstruse Propaganda nahm wenig Rücksicht auf die Realität. Die vermeintliche "#Ungerechtigkeit" gegenüber Deutschland nutzte Hitler als Rechtfertigung für den nächsten Krieg, tatsächlich ging es ihm aber um Eroberung und Vernichtung "Blut und Boden", v.a. im Osten/11
Auf der Krim (wir merken ein gewisses Motiv...) in Jalta trafen sich die alliierten Siegermächte 1945, um die nächste Friedensordnung zu verhandeln. #Stalin sagte zwar in seiner "Einflussphäre" demokr. Wahlen zu, setzte aber (moskautreue) Kommunisten auf Schlüsselpositionen/12
Er ließ Wahlen fälschen und sein System mit Gewalt durchsetzen. Der "Eiserne Vorhang" durchzog nun Europa. Was diese Ordnung so lange festigte (bis 1989/1991) war die Drohung gegenseitiger Vernichtung durch Atomwaffen. Der Zusammenbruch d. Sowjetunion "beendete" die Geschichte/13
Oder so schien es zunächst: Die Konflikte zwischen "gekränkten Großmächten" und gegensätzlichen Weltanschauungen schien nun endlich überwunden! Russland durch OSZE, "Grundakte" mit der NATO, Europarat und andere Institutionen und Vereinbarungen "integriert" - ein Fehlschluss/14
Das post-imperiale "Trauma" war (wid bei Deutschland) keinesfalls "natürlich", sondern über Jahre durch Propaganda geschaffen. Die Nostalgie einer "großen" Vergangenheit sollte den Wunsch nach einer besseren Zukunft ersetzen. #Putin wies Kooperation und Integration zurück/15
Wir stehen also wieder am Anfang. Gibt es eine historische Lektion? "It's the political system, stupid!" So schmerzhaft die Erkenntnis ist, langfristige Sicherheit funktioniert dauerhaft nur mit gleichen Prinzipien: Gewaltenteilung, freie Presse, demokratische Wahlen/16
Sicherheitsordnung umfasst nicht "Völker" oder "Kulturen", wie es "Geopolitiker" gerne erklären. Ohne eine gemeinsame Grundlage an Rechtsstaatlichkeit bleibt jede Friedensregelung Fassade, die langfristig zusammenbrechen muss /Ende
• • •
Missing some Tweet in this thread? You can try to
force a refresh
#Russland/s Krieg in der #Ukraine ist auch ein Kampf um Erinnerung. Wer hat das Recht auf das Erbe der #Sowjetunion und wie geht man mit der komplexen Geschichte der untergegangenen Weltmacht um? Am #TagderBefreiung spitzt sich dieser Konflikt der Symbole zu - ein Thread 🧵/1
Staatenbund, Bundesstaat oder (groß-)russisches Imperium? Die #Sowjetunion war alles davon. In der westl. Wahrnehmung verschwimmt diese Differenzierung. Im Englischen wird #Russia/#SovietUnion meist synonym verwendet, auch in Deutschland findet oft keine Unterscheidung statt /2
Die #Sowjetunion ging 1922 aus Sowjetrussland hervor als #Lenin seine Hoffnungen auf die Weltrevolution aufgeben musste. Er war nicht nur Ideologe sondern auch Pragmatiker der Macht: Nur knapp 50% der Bevölkerung waren Russen, andere Nationalitäten erhielten zunächst Freiräume/3
Ich bin promovierter Historiker und habe die letzten Jahre zum 1.WK/Zwischenkriegszeit gearbeitet. Nein, der #VersaillerVertrag hat nicht den 2.WK ausgelöst oder zum Aufstieg Hitlers geführt. #Gauland bedient sich (mal wieder) nationalistischer Mythen /1
Frankreichs bedeutende Industriegebiete im Nord-Osten waren fast vier Jahre lang von Deutschland besetzt, wurden ausgeplündert und am Ende systematisch zerstört. Reperationen waren aus Sicht von Paris angemessen. Letztendlich zahlte Dtl. davon auch nur einen Bruchteil/2
Gemessen an der Wirtschaftsleistung war die Belastung durch Reperationen für z.B. Ungarn deutlich größer. Deutschlands Industrie blieb durch den Krieg unangetastet. Die Briten setzten außerdem auf ein "Gleichgewicht" der Mächte und stutzten viele Forderungen Frankreichs zurück/3
Als die deutsche Armee 1941 vor #Moskau stand, ließ #Stalin eine heilige Ikone mit einem Flugzeug um die Stadt herum fliegen. Obwohl er brutale Repressionen gegen die orthodoxe Geistlichkeit anordnete, verstand er die Verknüpfung von russ. Nationalismus und Orthodoxie /1
In der existenziellen Krise des II. Weltkriegs stellte Stalin die kommunistische Ideologie (z.T.) hinten an und setzte auf ("groß")russischen Nationalismus. #Putin und seine Propaganda sehen das heutige #Russland ebenfalls in seiner Existenz durch den "Westen" bedroht /2
#Putin legitimiert seine Herrschaft als Verteidiger vor den Feinden von außen. Erneut hätten es "Faschisten" auf Russland abgesehen. Diesmal aber in Form der "Liberal-Faschisten", die versuchen würden, dem Land eine "fremde" Ordnung aufzuzwingen" - die liberale Demokratie/3