Ob durch mangelnde Recherche, eine Überdosis republikanischer talking points (Pfister ist Büroleiter in Washington, DC) oder bewusste Verstellung zum Zwecke der Generierung von Kulturkampf-Clicks - Pfisters Artikel ist eine Revue häufiger Missverständnisse und/oder Verzerrungen
der Argumente sowohl von Antirassist*innen als auch der sozialwissenschaftlichen Forschung zu Rassismus. Das wird gleich zu Anfang des Kommentars deutlich, wenn Pfister anführt, dass einer Umfrage zufolge 63 Prozent der Befragten es "absurd" fänden, wenn People of Color (PoC) es
als rassistisch empfänden, wenn sie jemand fragt, woher sie kommen: "wieso ist es Rassismus, wenn sich jemand für die Lebensgeschichte seiner Mitmenschen interessiert?" Natürlich ist es nicht rassistisch, wenn man sich dafür interessiert, ob jemand aus München oder Dresden kommt.
Allerdings ist es durchaus Alltagsrassismus, wenn jede*r, die nicht weiß ist, gefragt wird, wo sie*er "wirklich" her kommt. Warum? Weil diese Frage nur Sinn ergibt, wenn man implizit annimmt, dass alle Deutschen weiß sind - sonst würde man die Frage ja auch Weißen stellen.
Und genau diese Annahme ist das, was in den Sozialwissenschaften als "white supremacy" (weiße Vorherrschaft) bezeichnet wird - die Annahme, dass weiß zu sein der Normalzustand ist. Das ist die Grundlage für Alltagsrassismus.
Und Rassismus wird - Achtung, jetzt kommt ein
wichtiger Aspekt, der bei Pfister zumindest nicht angekommen ist - in den Sozialwissenschaften heutzutage mehrheitlich nicht mehr als individuelle Eigenschaft verstanden, sondern als *strukturelles* Merkmal von Gesellschaften (systemischer Rassismus).
Es geht hier (und das betrifft v.a. die Critical Race Theory) also gerade nicht darum, mit dem Finger auf Einzelne zu zeigen und sie als Rassisten zu brandmarken, sondern darum, Strukturen aufzudecken und zu verändern, die für eine
*Ungleichbehandlung* von Weißen und PoC sorgen - wie z.B. dass die Zugehörigkeit zum deutschen Gemeinwesen von PoC im Alltag häufiger in Zweifel gezogen wird (durch Fragen wie die eingangs erwähnte), dass Thomas leichter einen Job findet als Ayse usw. usf.
Werden in diesem Rahmen die Grenzen verschoben, die bestimmen, was man legitim sagen kann? Ja, definitiv.
Ist diese Einschränkung aber eine illiberale Gefahr für die Meinungsfreiheit? Nope. Warum? (1) Die Meinungsfreiheit ist ein Abwehrrecht gegenüber 👏 dem 👏 Staat 👏.
Wenn der Staat Herrn Pfister verbietet, Leute nach ihrer Herkunft zu fragen, haben wir es mit einem *Angriff auf die Meinungsfreiheit* zu tun. Sagt jemand, dass er keine Lust hat auf Pfisters Fragen, dann ist das eine *Meinungsverschiedenheit*. Nimmt ein Verlag
ein Buch aus dem Programm, weil er seine Meinung dazu geändert hat, wie die Inhalte zu beurteilen sind, dann ist das auch kein Angriff auf die Meinungsfreiheit, sondern ein Ausdruck der ökonomischen Freiheit eine*r Unternehmer*in, ihr Geschäft ohne staatlichen
oder anderweitigen Einfluss so zu führen, wie sie es für richtig hält. Liberaler geht es kaum. Dass das Pfister nicht passt, ist Pech, denn wir leben nun einmal in einer liberalen Marktwirtschaft und nicht in einer zentral gesteuerten Planwirtschaft.
Und wenn Leute ihre Meinung darüber ändern, was akzeptables Verhalten ist (oder eben nicht mehr), dann ist das auch kein Angriff auf die Demokratie. Eine Gefahr für die Demokratie wäre, wenn die Bundesregierung durchsetzen würde, das im
Bundestag nur noch PoC sitzen dürfen oder Weißen das Wahlrecht aberkannt würde. Dass man nicht (mehr) überall und immer rassistische Äußerungen herausblöken kann, ohne dass einem jemand widerspricht, ist kein Angriff auf die Demokratie oder die Meinungsfreiheit.
(2) Die inhaltlichen Änderungen selbst entpuppen sich bei genauerem Hinsehen tatsächlich nicht als Angriff auf liberale Rechte, sondern als *Liberalisierung*. Ich erinnere mich, dass ich noch in den 1990er Jahren im Tante-Emma-Laden an meiner Schule ein N-Wort-Brötchen
kaufen konnte, ohne dass irgendwer daran Anstoß genommen hätte. Heute benutzt das Wort Gott sei Dank (außer irgendwelchen AfD-Wähler*innen) niemand mehr, denn das ist - da wird Pfister sicherlich zustimmen - derbe rassistisch.
Ist die Tatsache, dass wir früher mit dem N-Wort rumschmeißen konnten, ohne dass uns jemand Rassismus vorgeworfen hat, heute aber nicht mehr, Ausdruck einer #Merz'schen #Zensurkultur? Natürlich nicht, denn das N-Wort war auch früher schon
rassistisch. Nur hat in den 1990ern sich niemand mal die Mühe gemacht, PoC zu fragen, ob sie das ehrenrührig finden. Dass wir (zumindest Teile von uns) und zunehmend dafür sensibilisieren, ob unsere Äußerungen andere beleidigen, ist nicht Ausdruck illiberaler Tendenzen.
Liberalismus heißt nicht, dass jede*r machen kann, was sie will, sondern meine Rechte finden Grenzen da, wo sie die Rechte anderer berühren. Und was beim Thema Rassismus okay ist oder nicht, sollte nicht von mittelalten weißen Männern wie Pfister (oder mir) bestimmt werden,
sondern von dejenigen, die davon betroffen sind*. Deren Rechte lässt Pfister allerdings komplett außer acht . Seine Forderung, gefälligst Sachen sagen bzw. fragen zu dürfen, die sein Gegenüber vielleicht kränkend empfindet, ist deshalb exakt null liberal.
Seins ist kein Argument für liberale (für alle gleiche) Rechte, sondern für den Erhalt von *Vor*rechten. Pfister versteht entweder nicht, was Meinungsfreiheit ist, oder er schiebt sie nur als Argument vor, um diejenigen mundtot zu machen, die eine andere Meinung haben als er,
indem er sie als Gefahr für die Demokratie hochstilisiert. Die Tatsache, dass Pfister so einen Kommentar veröffentlichen kann - noch dazu in einem "linken" Magazin" - zeigt, dass wir exakt null Probleme mit der Meinungsfreiheit haben.
PS: Wenn man den rechtsradikalen Aufständler (#January6th) Josh Hawley (den Liz Cheney direkt als "unfit" für sein Amt bezeichnet hat) für sein Argument heranziehen muss, sagt das eigentlich schon alles.
Ich meine, ist schon witzig, wenn man "linke Identitätspolitik" als große Gefahr hochstilisiert, wenn quasi nebenan Leute versucht haben, gewaltsam nicht nur ein gültiges Wahlergebnis, sondern das ganze demokratische System zu canceln. Aber gut, was weiß ich schon?
Als Ergänzung dazu der Thread vom Kollegen @mlewandowsky:
Fur diejenigen, die keine Nerds wie ich sind und US-amerikanische Innenpolitik verfolgen, kurz eine Einordnung, warum es schockierend ist, wenn @_FriedrichMerz sich mit @LindseyGrahamSC trifft. Oberflächlich betrachtet ist es ja völlig normal, wenn sich führende Politiker*innen
konservativer Parteien treffen. Wieso also regen sich Leute auf? Die kurze Antwort ist: die Republikanische Partei ist keine konservative Partei mehr, sondern eine antidemokratische und illiberale Bedrohung für die US-Demokratie.
Zur Verdeutlichung der Lage in den USA ein Gedankenexperiment: Man stelle sich einmal vor, wir steuern auf die nächste Bundestagswahl zu. Die SPD liegt nach einer Reihe von Skandalen hinten, Olaf Scholz droht, die Wahl zu verlieren. Doch anstatt die demokratischen Spielregeln
Ich möchte meinen Thread zu Cancel Culture zum Anlass nehmen, noch einmal auf einen anderen Punkt einzugehen, zumal es in den Drukos tw. heiß hergeht. Ich rede ja viel von der Gefahr des Trumpismus - ein Grund, warum mich auch dieses Hochstilisieren der (in diesem Fall)
"woken" Linken so beunruhigt. Was wir wissen, ist, dass Trump nur dadurch besiegt worden ist, dass (1) sich eine breite Koalition - von AOC/Bernie bis ins "normale" (small-d demokratische) konservative Lager - hinter Biden gebildet hat, und (2) *republikanische* Amtsträger*innen
(von Wahlleiter*innen in Bundesstaaten bis hoch zum erzkonservativen Supreme Court) Trumps Putschversuch entgegengestellt haben. Und ein wesentlicher Faktor, der uns Trump gebracht hat, ist das, was Politolog*innen affektive Polarisierung nennen - fancy Wort dafür, dass
Wenn jemand in DE den US-Diskurs zu angeblich gefährlicher #CancelCulture übernimmt, dann ist es wichtig zu verstehen, in welchem Kontext und von wem das in den USA formuliert wurde. Cancel Culture ist ein Begriff vom Rechtsaußenflügel der Republikanischen Partei (der
inzwischen fast die ganze Partei geschluckt hat), und der Kontext ist rechter Kulturkampf. Auch wenn Cancel Culture oberflächlich liberal wirkt - es geht ja um freie Meinungsäußerung -, ist es scheinliberal, weil grundsätzlich damit Leute verteidigt werden, die rechtsradikale,
rassistische, sexistische usw., kurz: illiberale und/oder antidemokratische Positionen vertreten. D.h. Meinungsfreiheit wird hier instrumentalisiert, um immer radikalere stramm rechte Positionen salonfähig zu machen. Wird daran Kritik geübt, schreit man, man werde gecancelt.