Die Schlüsselfrage des russischen Krieges in der #Ukraine lautet: Hat #Putin eine Ideologie und glaubt er selbst daran? Gibt es einen "Putinismus" oder nur eine "ad hoc"-Machtpolitik (wie es etwa @MarkGaleotti beschrieben hat)? Ein paar Gedanken:/1
In seiner jüngsten (erstaunlich kurzen) Ansprache hat Putin seine Weltsicht noch einmal bekräftigt und erweitert: Russland kämpft gegen ukrainische und mittlerweile auch globale "(Neo)Nazis" in direkter Kontinuität zum 2. WK. Um so überraschender, dass heute die Führung/2
der Verteidiger von #Azovstal in einem Gefangenenaustausch freigelassen wurden. Diese galten der russischen Propaganda als Musterbeispiel des "Faschismus" in der Ukraine - "Nazis" gegen die ein "internationales Tribunal" a la Nürnberg hätte durchgeführt werden sollen/3
Letztendlich tauschte sie Putin nun doch gegen seinen Spezi Medwedtschuk aus. Ist der Kampf gegen den "globalen Nazismus" also reines Geschwätz? In seinem Telefongespräch lobte #Scholz die "höflichen Umgangsformen" Putins - gleichzeitig wird der deutsche Kanzler im russischen/4
Staatsfernsehen als "Anhänger Hitlers" diffamiert. Natürlich nicht ohne Zustimmung Putins. In Russland hat der Widerspruch Methode. Alles ist gleichzeitig wahr und unwahr, der Grundton der "russischen Welt". Doch woran glaubt Putin dann wirklich? Ein Hinweis sind seine/5
historischen "Lektionen", die er ständig in seinen Reden unterbringt. Die "Kontinuität der 1000-jährigen Geschichte" Russlands - von Alexander Nevskij bis Stalin. Putin sieht in all diesen Figuren (deren Widersprüchlichkeit er ignoriert) eine Gemeinsamkeit:/6
Sie schufen ein "großes Russland" und waren niemandem gegenüber Rechenschaft schuldig. Putins Ideal ist die völlige Selbstbestimmung. Die Schaffung einer eigenen Realität, die er beliebig herstellen und ändern kann - wenn er es will ist der beste Freund von heute der schlimmste/7
Feind von morgen - und umgekehrt. Tschetschenen waren früher Todfeinde - sind heute Patrioten. Der Widerspruch IST Putins Ideologie. Niemand außer ihm kann und darf den Narrativ bestimmen. Gestern: Es wird nie Krieg, nie Mobilisierung geben, westliche Lügen! Heute: Wir haben es/8
nie anders gewollt. Dass sich Putins Sprecher Peskov oder sein Außenpudel Lawrow ständig in Widersprüche verstricken ist Teil des Systems. Am Ende bleibt nur eins: Macht über das Narrativ. Putin könnte morgen genauso seine Truppen abziehen wie die totale Mobilisierung ausrufen./9
Es gibt keine Kohärenz, keine Wahrheit. Putin bestimmt selbst als "Souverän", nicht nur über den Staat, sondern über die Realität. Morgen könnte er gegen Peking eine "Spezialoperation" über die Amurgrenze führen und behaupten, die Chinesen seien schon immer Feinde gewesen. /Ende
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Gestern vor 102 Jahren begann die #SchlachtUmWarschau. Russische Truppen standen vor der Hauptstadt des jungen Staates, der um seine Existenz kämpfte. Lenins Ziel war die Auslöschung des "bürgerlichen" Polen und die Einsetzung einer bolschewistischen Marionettenregierung/1
Wie reagierte Deutschland? Während Frankreich und UK den Polen mit Waffen und Beratern (u.a. Charles de Gaulle!) zu Hilfe kamen, hofften viele Deutsche auf einen Erfolg der Bolschewiki. Polen galt als "Saisonstaat", ein "künstliches Gebilde" d. #VersaillerVertrag/s /2
In weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit galten die Polen als chancenlos gegen das gewaltige russische Heer. Deutschland verweigerte Waffenliegerungen durch sein Territorium. Besonders in Oberschlesien gab es Proteste gegen den westlichen Waffentransport nach Polen/3
#PutinsKrieg ? In seiner Kriegsrede am 24. Februar stellte #Putin klar, dass er die Entscheidung zur Invasion der #Ukraine selbst getroffen hat. Selbst hochrangige Diplomaten wie #Lawrow waren nicht eingeweiht, der Sicherheitsrat nickte nur ab. Ist die Sache damit klar?/1
Nein. Dass der Ukraine die Staatlichkeit, Souveränität und Kultur abgesprochen wird, ist tief in der russischen Gesellschaft verankert. Putins Rechtfertigung für den Krieg kann auf einem breiten Fundament aufbauen. Der "Verlust" d. zarischen/sowjetischen Imperiums/2
bestimmt nicht nur Putins Denken. Seit der Öffnung ab 1989 gab es zwar Versuche der kritischen Aufarbeitung d. russischen Geschichte, des Aufbaus einer modernen Zivilgesellschaft. Bereits unter Jelzin, einst demokratischer Hoffnungsträger, kehrte d. Autoritarismus zurück/3
Über Monate gab es einen rechts(libertären?) Shitstorm gegen @ardenthistorian, weil sie während der Corona Pandemie für ihr Buch nicht in den USA arbeiten konnte. Inzwischen ist sie vor Ort und das Argument wird einfach umgekehrt: "Man muss gar nicht selbst reisen, um..."
Als Historiker(in) muss man, je nach Fragestellung, nicht immer "vor Ort" sein - zentral ist die Kenntnis der Quellensprache und der Zugang zu Quelle (mittlerweile oft digital möglich). Qualitative/Quantitative Interviews als sozialhistorische Methode sind im Fach noch rel. jung
Punkt ist: Wenn man nicht inhaltlich, sondern willkürlich "ad hominem" kritisiert, dann ist das Ideologie und hat mit #wissenschaftsfreiheit wenig zu tun.
Vor einem halben Jahr begann mit der Invasion der #Ukraine durch #Russland der blutigste Krieg den wir seit 1945 in Europa erleben und der selbst die Zerfallskriege Jugoslawiens in d. Schatten stellt. Was denken RussInnen über den Krieg? Meine (subjektive!) Einschätzung 🧵/1
Die meisten RussInnen haben sich mit den Defiziten des eigenen Staates abgefunden: Korruption, Disfunktionalität, soziale Ungleichheit. Da Proteste zu nichts führten, blieb nur Zynismus. Nach außen ist das Bild d. eigenen Landes aber ungetrübt: Eine Kraft d. "Guten" in der Welt/2
Die Vorstellung, dass Russland in seiner Geschichte nie "Krieg" geführt hat, ist tief in der Gesellschaft verankert. Immer nur Verteidigung der Heimat oder Schutz von Verbündeten. Zentraler Fixpunkt ist der 2. WK und der "Sieg über den Faschismus". Opfer- u. Heldenkult/3
Von #Gorbatschow zu #Putin: Der Kontrast könnte nicht größer sein - vom demokratischen Aufbruch zum (neo)stalinistischen Totalitarismus. "Perestroika" und "Glasnost" erscheinen heute wie ein ferner Traum. Oder sollten wir mittlerweile auch 1989 neu bewerten? Ein Thread 🧵/1
#Gorbatschow kam aus der Provinz (Stawropol, Nordkaukasus) und verdankte seinen Aufstieg KGB-Chef J. Antropow, der 1982 Generalsekretär wurde. Dieser war Asket, Technokrat u. Autokrat. Klug genug um zu erkennen, dass die #Sowjetunion reformiert werden musste, um zu überleben. /2
Dem todkranken Antropow erschien Gorbatschow als perfekter Nachfolger: Idealistisch, Intelligent und nicht korrupt. Die erste Welle der Perestroika (1985) war "technokratisch" - der Kampf gegen den Alkohol. Wie so viele gut gedachte Reformideen endete die Kampagne katastrophal/3
"Geostrategen" wie #Kissinger begreifen die Welt als großes Spielbrett, wo die Mächtigen Gebiete zu ihren Zwecken hin- und herschieben. Vorbild ist der #WienerKongress (1815) oder die Konferenz von #Jalta (1945). Das will letztlich auch #Putin, der "historisch" argumentiert /1
Das russische Außenministerium bezieht sich wahlweise auf die mittelalterliche Ruß oder den Vertrag von Perejaslaw (1654) zwischen Zarenreich und Kosakenhetmanat. Der Wille der aktuellen Bevölkerung spielt dagegen keine Rolle. Die Ukraine sei ein "unechter/künstlicher Staat" /2
Wer sich (besonders als russischsprachiger) Bürger mit diesen Staat identifiziere, habe ein "falsches Bewusstsein" (Medwedew), das man "bereinigen" müsse. Ein Prozess d. "Russifizierung" hat in den besetzten Territorien im Bildungswesen, d. Administration etc. bereits begonnen/3