Zunächst möchte ich aber einen löblichen Punkt hervorheben: Es wird klar & deutlich »[e]in deprimierendes Menschenbild« identifiziert & kritisiert, dass »davon ausgeht, dass Menschen eher faul sind und nur die Sprache von Sanktionen und kalten ökonomischen Anreizen verstehen.« 2/
Mensch könnte hier noch ergänzen, dass dies nicht nur in Politik & Medien, sondern auch in der Ökonomik verbreitet ist. Wichtig wäre es außerdem, dies auch klar als das zu adressieren, was es ist: eine abwertende Haltung (Klassismus, Menschenfeindlichkeit). 3/
Es ist jedenfalls richtig & wichtig, darauf hinzuweisen. Allerdings hätte ich mir gerade deshalb etwas mehr dieser Sensibilität an anderen Stellen im Text gewünscht. 4/
So wird am Anfang richtigerweise der Mythos entzaubert, das Bürgergeld gäbe keine finanziellen Anreize, um Arbeit anzunehmen. Hier hätte bereits darauf hingewiesen werden können, dass es ein deprimierendes Menschenbild ist, die Menschen auf finanzielle Anreize zu reduzieren. 5/
Aber gleich darauf wird auf die Transferentzugsrate (80%) abgehoben & geschrieben: »Hier lohnt sich zusätzliche Arbeit oftmals wirklich nicht.« Dann also doch wieder der Bezugspunkt auf ein Menschenbild, dessen Kalkül auf’s Ökonomische reduziert ist? 6/
Der springende Punkt ist, dass der Transferentzug, soweit ich es überblicke, breit akzeptiert scheint: Denn er soll vermeiden, dass sich ›die‹ Wirtschaft an einer durch Aufstockung subventionierten Arbeitskraft gesundstößt & der Niedriglohnsektor zementiert wird. 7/
Daher wird dieses Problem des Transferentzugs *in einem System von Zuverdiensten zu Sozialtransfers (Aufstockung)* immer existieren. Um was es dann deshalb geht, ist eine Abwägung normativer Detail-Fragen der Umsetzung. 8/
Es ist richtig, wichtig & gut, dass Fratzscher & Co. die Sanktionen kritisieren. Es ist auch in Ordnung, anzumerken, dass die beabsichtigten Ziele – die Menschen in Beschäftigung zu bringen – mit Sanktionen nicht erreicht werden. 9/
Aber es besteht ein Problem, wenn sich der Fokus auf diese Wirkung & die Beschäftigungseffekte richtet. Denn den Sanktionen liegt ein logischer Widerspruch zu Grunde, der mit ethischen & sozialstaatlichen Grundsätzen kollidiert: nämlich in der Kürzung eines Existenzminimums. 10/
Richtig wäre daher, konkret von »existenzbedrohlichen Sanktionen« zu sprechen, um auch die eigentliche Intention hinter den Sanktionen deutlich werden zu lassen: Es geht darum, Existenznot als Instrument des Arbeitsmarktes zu begreifen. 11/
Die Sanktionen sind also nicht einfach monetäre Kürzungen, die das standard-ökonomische Rational-Kalkül ob des suboptimalen Nutzens ärgern, sondern es geht fundamental um die Infragestellung basaler Gerechtigkeitskonventionen in »unserer« Gesellschaft. 12/
Und spätestens an diesem Punkt wird ein Missverständnis vor allem unter Ökonom:innen deutlich: Das #Bürgergeld ist in erster Linie eine sozialstaatliche Maßnahme & kein Instrument der Arbeitsmarktregulierung.13/
Das Bürgergeld soll ja der Form nach eine soziokulturelle Existenz in der Gesellschaft sicherstellen, wenn – hauptsächlich durch Erwerbslosigkeit &/oder niedrige Löhne bedingt – Bedürftigkeit vorliegt. 13/
Genau das gerät unter die Räder, werden solche sozialstaatlichen Maßnahmen maßgeblich unter dem Blickwinkel der (volkswirtschaftlichen) Beschäftigung & Sanktionen unter dem abstrakten standard-ökonomischen Anreiz-Rational-Kalkül betrachtet.14/
Dann wird über »Gerechtigkeit« gesprochen & auch – berechtigt – das deprimierende Menschenbild der Kritik am Bürgergeld kritisiert wird. Mit Befremden stolpern die Lesenden dann aber über folgenden Satz: »Über Gerechtigkeit lässt sich schlecht streiten.« 15/
Was soll damit suggeriert werden? Dass Gerechtigkeitsfragen eher eine Sache der Beliebigkeit, Meinungsäußerungen usw. sind? Ich will den Autoren nicht zu nahetreten, aber wer sich mit normativer Ökonomik, Wirtschaftsethik o.Ä. befasst, wird das wohl als unterkomplex empfinden.16/
Befremdlich ist auch folgende Aussage: »Arbeit gäbe diesen Menschen die Möglichkeit, etwas Sinnstiftendes zu tun. Die allermeisten Menschen, die heute in Deutschland arbeitslos sind, haben entweder gesundheitliche Probleme oder ihnen fehlt eine ausreichende Qualifizierung.« 17/
Erstens ist »Arbeit« nicht mit Lohnarbeit gleichzusetzen. Wer sagt denn, dass Lohnarbeit sinnstiftend sein muss? Und vor allem, dass es bei der vermittelten Arbeit auf ›dem‹ Arbeitsmarkt um Sinnstiftung geht?🤨 18/
Als Ökonomen müssten die Autoren es doch besser wissen: Im mainstream-ökonomisch geprägten Verständnis von Arbeitsmarkt geht es doch nicht um Sinnstiftung, sondern nach marktwirtschaftlich verwertbarer Produktivität. 19/
Es gibt aber diverse Sinn stiftende Arbeit, die nicht marktwirtschaftlich verwertbar ist. Übrigens gibt es auch gesellschaftlich, sogar: marktwirtschaftlich notwendige Tätigkeiten, die im mainstream-ökonomischen Blick nicht marktfähig sind? Stichwort: Care/ Sorgearbeit?🤔 20/
Zweitens ist mir die Aussage, dass »[d]ie allermeisten« Arbeitslosen gesundheitliche Probleme haben oder nicht qualifiziert sind, zu pauschal & in ihrer Pauschalität steht sie auch bedenklich nahe an bestimmten abwertenden Stereotypen (ggü Erwerbslosen).21/
Zum Schluss noch folgender Punkt: Der Text soll falsche Behauptungen & Mythen entzaubern. Das tut er. Gleichzeitig hätte ich mir aber auch gewünscht, ein paar Zeilen über den Mythos zu lesen, dass mit dem Bürgergeld irgendwie eine Abkehr von HartzIV verbunden wäre. 22/
Denn eine Abkehr von HartzIV ist dieses Bürgergeld eben nicht. Dann darauf hinzuweisen, dass diese Reform Einzelnen nicht weit genug ginge, weil die Regelsätze höher ausfallen könnten & Sanktionen komplett abzuschaffen wären, ist in dem Kontext ein fatales Missverständnis.23/
Denn 1. geht es nicht einfach um höhere Regelsätze, sondern um eine neue Regelsatzberechnung, die tatsächlich auch dem sozialstaatlichen Anspruch auf bedarfsgerechte & menschenwürdige Existenz in der Gesellschaft gerecht wird!24/
Die neuen Regelsätze sind unter dem Strich nur um eine Inflationsangleichung modifiziert worden, wozu die Bundesregierung mWn ohnehin verpflichtet war. Eine echte Änderung an der Regelsatzberechnung gibt es nicht. 25/
2. Bei beiden Aspekten (neue Regelsatzberechnung & Abschaffung existenzbedrohlicher Sanktionen) handelt es sich nicht um "Wünsch-was"-Detail-Forderungen, sondern um zentrale Elemente, deren Umsetzung tatsächlich eine echte Abkehr von #HartzIV signalisieren würde. 26/
Änderungen gibt es, kleine Verbesserungen auch, aber ein echter Systemwechsel sähe anders aus. Und das wäre auch ein Argument gegenüber den marktfundamentalistischen Kritiker:innen am Bürgergeld. Was regen sie sich auf, ist es doch letztlich nur eine konservative Anpassung.27/end
• • •
Missing some Tweet in this thread? You can try to
force a refresh
Ich stimme @Fionnindy hier⬇️ zu, möchte aber darauf hinweisen, dass diese Strohpuppen-Argumentation zu #IchbinHanna noch einen zweiten Effekt hat: Es wird gar nicht über den Bedarf an Dauerstellen gesprochen. 1/7
Das Absurde ist ja, dass wohl nicht alle befristeten Stellen, aber vermutlich doch ein sehr großer Teil davon zu Dauerstellen werden sollte. Diese notwendige Diskussion wird mit der Strohpuppe (alle entfristen) schon im Vorfeld abgewürgt & präventiv eine Hypothek aufgedrängt. 2/7
Kommt es nämlich dann doch zu der Diskussion über Dauerstellen, kann unter dem Eingeständnis, nicht alle Befristungen zu entfristen, die Zahl der Dauerstellen ruhig klein bleiben: Mensch wollte ja nicht alle entfristen.🙄 3/7
Der Beitrag zeigt gut, wie verengt das standard-ökonomische Blick ist. Selbst wenn Ökonom:innen sich mit »Rassismus« beschäftigen, wird das Problem in aller Regel nicht wirklich erfasst. 2/6
Sollte mensch einen Verhaltensökonomen an prominenter Stelle über „Wie viel Lockdown ist ein Leben wert?“ schreiben lassen oder soll man es lassen? ⬇️zeit.de/2021/14/corona… Ein paar Gedanken zu diesem befremdlichen Text. 1/19
Befremden löst vor allem aus, *wie* dort die Wertsetzung, -verrechnung usw. von „Leben“ unter das Publikum gebracht werden. Argumente? Ach was! Der Verweis, dass „wir“ das (Verrechnen) doch bereits machen, reicht. Weil etwas so ist, soll es also auch so sein? 2/19
Eingangs wird die Kritik von Franziskus an der Marktfixierung des Wirtschaftsdenkens kritisiert, weil Märkte doch die Probleme der Pandemie lösen können, um dann weiter unten im Text einzugestehen, das Märkte nicht alles lösen (was übrigens auch Franziskus schreibt)...🙄 2/15
Dazu kommt natürlich wieder das Argument mit der Armutsschwelle 1,90$, "unser" Wirtschaften (aka 'Kapitalismus') hätte doch Menschen aus der Armut geholt... Kein Hinweis, wie umstritten die 1,90$ sind. Und ich würde auch sagen, dass der Aussagehalt recht überschaubar ist... 3/15
Die Ergebnisse sind interessant & werden zu Recht diskutiert. In der Darstellung & darin, wie „die Medien“ einzelne Punkte aufgreifen, stellen sich mir aber Fragen. So z.B. zum Punkt wöchentliche Arbeitszeit der Millionär:innen, die aus Selbstauskünften (!) gewonnen wurde. 2/21
Mensch könnte zB bei Angestellten nach abgeschnittenen Überstunden fragen; & ist Care nicht auch Arbeit. Wer hat den Millionären das Essen gekocht?😉
Aber davon ab: Kritisch sehe ich auch die Empfehlungen, die mir zu kurz greifen, zu unbedacht & politisch zu einseitig sind. 3/21
Jedenfalls für mich ist zentraler, welches Bild in "der" Ökonomik von verschiedenen Menschengruppen vermittelt wird. Wie werden Arbeitnehmer:innen dargestellt? Wie wird über "Arme" & "Armut" gesprochen? Wie über Erwerbslose? 2/9
Und dazu lassen sich zB in Lehrbücher finden:
* Arbeitnehmer:innen, die lieber Freizeit konsumieren (Neoklassik) & gar nicht arbeiten wollen (Arbeitsaversion)
* AN & Bewerber:innen, die potenziell Arbeitgeber:innen betrügen (Agency-Theory) 3/9